Nach Jahren an der Berliner Volksbühne, die er maßgeblich prägte, inszeniert Frank Castorf nun als eine Art Regie-Rentner an verschiedenen Gastbühnen. Diesmal hat es das Berliner Ensemble getroffen – eine Begegnung, die man dem Haus gerne erspart hätte.
Es gibt diese Momente im Theater, in denen sich die Frage stellt: Wem dient diese Inszenierung eigentlich? Castorfs Interpretation von Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ am Berliner Ensemble liefert darauf eine eindeutige, wenn auch ernüchternde Antwort: Sich selbst. Die Tatsache, dass sich der Saal nach der Pause um etwa ein Fünftel leerte, spricht dabei eine deutliche Sprache.
Ensemble Gefangene der Regie
Vorweg muss gesagt werden: Auf der Bühne des Berliner Ensembles standen an diesem Abend exzellente Schauspieler, deren Können sich in anderen Produktionen des Hauses regelmäßig beweist. Die gleichen Darsteller, die hier durch Castorfs Inszenierung zum schieren Übermaß gezwungen wurden, zeigen in anderen Stücken auf derselben Bühne fein ziselierte Darstellungen mit präzisen, subtilen Gesten. Es ist die schmerzliche Erkenntnis dieses Abends, dass selbst die besten Schauspieler gegen eine verfehlte Regiekonzeption machtlos sind. Wenn der Regisseur es so will, bleibt auch dem versiertesten Darsteller nur die Überzeichnung – eine anspruchsvolle Aufgabe für das Ensemble, gewiss, aber eine letztlich fruchtlose.
In einer marathonhaften Aufführung von fünf Stunden entfaltet sich ein Theaterabend, der die grundlegendsten Prinzipien der Bühnenkommunikation missachtet. Die fundamentale Verweigerung, Theatermikrofone zu nutzen, wäre dabei noch das geringste Übel – wenn denn wenigstens in Richtung des Publikums gespielt würde. Stattdessen murmeln die Schauspieler oft in die falsche Richtung, machen selbst von den besten Plätzen im Rang aus das Verständnis zur Glückssache. Verschärft wird diese Problematik noch durch den Einsatz von Live-Kameras, deren Bilder von der Unter- und Hinterbühne auf zwei mobile Rückprojektoren übertragen werden – auch diese so unglücklich positioniert, dass ein Verfolgen der Handlung nahezu unmöglich wird. Was hinter einem großen Banner auf der Hinterbühne geschieht, bleibt größtenteils im Verborgenen, die Kameraübertragung macht es nicht besser.
Überforderung als vermeintliches Konzept
Was als künstlerische Strategie der Verfremdung gedacht sein mag, entpuppt sich schnell als simple Überforderung des Publikums. Dabei ist die Kenntnis des Ursprungstextes „Kleiner Mann – was nun?“ nahezu Voraussetzung, um dem Abend überhaupt folgen zu können. Selbst das wiederkehrende poetische Motiv „Die Kuh, der Schuh, dann du“ – eigentlich als verbindendes Element gedacht – verstärkt nur den Eindruck einer willkürlichen Aneinanderreihung von Fragmenten.
Von allem zu viel, von nichts genug
Diese konzeptionelle Überladung spiegelt sich besonders deutlich im Bühnenbild wider. Das Kleidungsgeschäft – weder modern noch klassisch – schwebt in einem seltsamen Zwischenraum: inhaltlich leer, aber visuell überbordend mit glänzenden Farben. Man könnte darin einen Kommentar zur Reizüberflutung der Konsumgesellschaft vermuten, doch auch dies wäre eine Überinterpretation. Es ist schlicht ein weiteres Element einer nicht zu Ende gedachten Inszenierung, die auch hier wieder zu viel will, zu viel baut und am Ende keinen Beitrag zum Verständnis leistet.
Wie ein überfüllter Eisbecher von Ben & Jerry’s präsentiert sich die gesamte Inszenierung: Von allem ist zu viel da, aber nichts davon ergibt einen kohärenten Geschmack. Die musikalischen Einsprengsel, von Ton Steine Scherben bis Ernst Busch, wirken wie lieblos hingeklatschte Garnitur auf einem bereits überladenen Dessert. Die einzelnen Segmente ziehen sich endlos hin, ohne dass sich ein dramaturgischer Bogen erschließen würde. Wenn dann plötzlich ein russischer Soldat mit dem Ausruf „хлеб“ (Brot) im Räderwerk des Bühnenbodens sein Brot teilt, wirkt das wie ein weiteres beliebiges Stück Konfekt in einem ohnehin schon überfüllten Eisbecher.
Die Szenen in der Unterbühne, die in ihrer Nacktheit menschliche Vulnerability zeigen sollen, mögen für sich genommen noch diskutabel sein – wie Keksteigstücke in einem Topf Sahneeis. Doch im Gesamtkontext einer Inszenierung, die sich permanent selbst im Weg steht, werden auch sie zum bloßen Effekt.
Lichtblick in der Dunkelheit
Inmitten dieser konzeptionellen Verwirrung sticht die Arbeit der Dramaturgin Amely Joana Haag hervor. Ihre Bemühungen, dem Abend Struktur und Verständlichkeit zu verleihen, sind bemerkenswert – auch wenn sie gegen die Flut der Castorf’schen Eigenwilligkeiten letztlich nicht ankommen kann.
Fazit: Theater als Selbstzweck
Was bleibt, ist der fade Nachgeschmack einer Inszenierung, die sich weder um Bühnentauglichkeit noch um zeitgenössische Relevanz bemüht. Stattdessen scheint sie sich in selbstreferentiellen Verweisen auf Castorfs eigene Prägungsphase zu verlieren – Insider-Witze für ein Publikum von einem, während der Rest des Saals ratlos zurückbleibt.
Von einer Gruppe von sieben Besuchern verließen fünf das Theater vorzeitig – ein deutliches Zeichen dafür, dass hier nicht etwa produktive Verstörung, sondern schlichte Überforderung das Resultat war. Was als Modernisierung eines zeitlosen Stoffes gedacht war, gerät zur Demonstration dessen, wie Theater nicht funktioniert: als hermetisch abgeriegelte Kunstübung ohne Bezug zu seinem Publikum.
Die Überforderung des Publikums mag in manchen Fällen ein legitimes künstlerisches Mittel sein – hier wird sie zum Vorwand, um künstlerische Beliebigkeit als avantgardistisches Theater zu verkaufen. Das ist mehr als schade, denn Falladas Roman hätte gerade in unseren Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit viel zu sagen. Diese Chance wurde gründlich verspielt.