Die Ukraine positioniert ihre Rohstoffvorkommen wenig überraschend als strategischen Hebel im geopolitischen Kräftemessen. Ein durchdachtes Konzept verbindet Investitionen, militärische Sicherheit und industrielle Entwicklung – mit dem Ziel, die historische Position als reiner Rohstofflieferant zu überwinden.
Am 11. Dezember 2024 hatte ich die Gelegenheit, bei einer Konferenz des Ostausschusses der Industrie- und Handelskammer (IHK) in erster Reihe dabei zu sein. Bei dieser hochrangig besetzten Veranstaltung sprach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) nahm an einer Diskussionsrunde teil und der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal war persönlich vor Ort. Was ich dort erlebte, war ein früher Einblick in die strategische Neuausrichtung der ukrainischen Rohstoffpolitik, die nun, wenige Monate später, durch die jüngsten Äußerungen von US-Präsident Donald J. Trump erneut in den Fokus rückt.
Der Vorschlag Trumps Anfang Februar 2025, Militärhilfe mit Rohstofflieferungen zu verknüpfen, basiert auf einer Initiative, die Kiew bereits im Herbst 2023 unterbreitet hatte. Diese strategische Ausrichtung folgt einer klaren wirtschaftspolitischen Logik.
Tradition als Rohstofflieferant
Die Ukraine verfügt über eine lange Tradition als Rohstoffexporteur. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion basierte die Wirtschaft des Landes hauptsächlich auf dem Export von Rohstoffen und einfachen Industrieprodukten. Diese Konstellation führte zur Entstehung einer einflussreichen Oligarchie, deren Vermögen primär auf der Kontrolle von Bergbau- und Metallurgiebetrieben basierte. Das Metallurgische Kombinat Asow-Stahl in Mariupol entwickelte sich zum Symbol dieser ressourcenbasierten Wirtschaftsordnung.
Insbesondere die östlichen Regionen Donezk und Luhansk waren seit jeher das industrielle Herz der Ukraine. Der Donbas, das Donezbecken, ist bekannt für seine reichen Vorkommen an Steinkohle und Eisenerz. Doch auch seltene Metalle wie Lithium, Titan und Gallium, die für Zukunftstechnologien unverzichtbar sind, schlummern hier im Boden. Mit der Annexion der Krim durch Russland gingen der Ukraine zudem bedeutende Offshore-Gasvorkommen im Schwarzen Meer verloren.
Die Kontrolle über diese Rohstoffe war stets auch eine Frage der politischen Macht. Unter Präsident Wiktor Janukowytsch, der aus dem Donbas stammte, erreichte der Einfluss der Oligarchen seinen Höhepunkt. Doch die Maidan-Revolution von 2014 leitete einen Wandel ein. Die neue Führung in Kiew erkannte, dass eine nachhaltige wirtschaftliche und politische Stabilität nur durch eine Abkehr vom reinen Rohstoffexport zu erreichen ist.
Rohstoffpotenzial und strategische Bedeutung
Die Ukraine verfügt über außergewöhnliche Rohstoffvorkommen, wie ein analytischer Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) aufzeigt. Auch eine Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit dem Titel Rohstoffe der Ukraine aus dem Oktober 2023 ist hier durchaus beachtenswert. Bei Erdgas – einschließlich Schiefergas – besitzt das Land Reserven von über einer Billion Kubikmeter. In Europa verfügt nur Norwegen mit 1,53 Billionen Kubikmeter über größere Erdgasvorkommen. Die Steinkohlereserven werden auf rund 34 Milliarden Tonnen geschätzt und sind damit die zweitgrößten Europas.
Kritische Mineralien für Zukunftstechnologien
Besondere strategische Bedeutung haben die Vorkommen kritischer Mineralien:
- Lithium: Zentrale Lagerstätten in Kruta Balka (Oblast Saporischschja) und Schewtschenko (Oblast Donezk); essentiell für Batterieproduktion und Energiespeicherung
- Titan: Zweitgrößte Vorkommen Europas; unverzichtbar für Luft- und Raumfahrt sowie Medizintechnik
- Mangan: 2,3 Milliarden Tonnen (12 Prozent der globalen Reserven); wichtig für Stahlveredelung
- Graphit: 2,2 Prozent der Weltproduktion; zentral für Batterietechnologie
- Gallium: 1,3 Prozent der globalen Erzeugung; bedeutend für medizinische Diagnostik und Militärtechnik
Premierminister Denys Schmyhal verwies auf das Potenzial seines Landes als Rohstofflieferant. Die Ukraine könne mit ihren Vorkommen an Graphit, Titan und Lithium helfen, die Abhängigkeit von China zu reduzieren. Schmyhal stellte zudem die Erschließung ukrainischer Gasfelder in Aussicht, um Europa unabhängiger von russischen Lieferungen zu machen.
Land als Unterpfand
Ein Großteil der strategisch bedeutsamen Rohstoffvorkommen der Ukraine liegt in den östlichen Landesteilen, die derzeit umkämpft sind oder sich in unmittelbarer Nähe zur Frontlinie befinden. Insbesondere die Regionen Donezk, Luhansk und Saporischschja, in denen bedeutende Vorkommen an Lithium, Titan und anderen kritischen Mineralien vermutet werden, sind von russischen Truppen besetzt oder heftig umkämpft.
Indem die ukrainische Regierung ausländischen Investoren Zugriff auf diese Vorkommen in Aussicht stellt, macht sie ihr Staatsgebiet zum strategischen Unterpfand in den Verhandlungen. Das Kalkül dahinter ist, dass die interessierten Staaten und Konzerne im Gegenzug ein handfestes Interesse an der Rückgewinnung und dauerhaften Kontrolle dieser Territorien durch die Ukraine entwickeln.
Dies würde einerseits militärischen Schutz und verstärkte Waffenlieferungen implizieren, um die betroffenen Gebiete zurückzuerobern und langfristig zu sichern. Andererseits entstünde auch ein starker Anreiz, die für den Export der geförderten Rohstoffe notwendige Verkehrs- und Logistikinfrastruktur auszubauen und zu schützen.
Konkret könnte dies den Aufbau und die Absicherung von Transportkorridoren zur Ostsee, zum Schwarzen Meer und möglicherweise auch zur Donau als wichtigste Wasserstraße Südosteuropas bedeuten. Da der Abtransport großer Rohstoffmengen praktisch nur über Schiene und Schiff erfolgen kann, wären hierfür massive Investitionen in Hafenanlagen, Bahnstrecken und deren Schutz erforderlich.
Aus Sicht der Ukraine würde dies nicht nur den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Entwicklung der umkämpften Regionen befördern. Es würde auch ihre geopolitische Position gegenüber Russland nachhaltig stärken, indem es die Anrainerstaaten dieser Transportrouten zu natürlichen Verbündeten machte. Der Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Infrastruktur könnte so direkt mit dem Ausbau der Rohstoffförderung und der dazugehörigen Transportwege verknüpft werden.
Schmaler Grat zwischen Reichtum und Ressourcenfluch
Wer tief in der Erde gräbt, kann dort sowohl Segen als auch Fluch finden. Diese uralte Weisheit bewahrheitet sich besonders in der Wirtschaftsgeschichte rohstoffreicher Nationen. Der Ressourcenfluch schillert meist als trügerischer Reichtum: Trotz wertvoller Bodenschätze verharren viele Länder in einer Spirale aus Abhängigkeit und wirtschaftlicher Stagnation. Wie ein hungriger Mensch, der zwar von üppig gedeckten Tafeln umgeben ist, aber keinen Zugang zu den Speisen erhält, können diese Staaten trotz ihrer unterirdischen Reichtümer die eigene Bevölkerung nicht aus der Armut führen.
Der Mechanismus ist tückisch: Die scheinbar mühelose Einnahmequelle aus dem Rohstoffexport lähmt wie ein süßes Gift die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige. Warum mühsam eine verarbeitende Industrie aufbauen, wenn der Verkauf der Rohstoffe schnelles Geld verspricht? Eine kleine Elite sichert sich die Kontrolle über die Bodenschätze, während die breite Bevölkerung leer ausgeht. Korruption wuchert wie Unkraut in diesem fruchtbaren Boden aus leicht verfügbarem Reichtum und schwachen Institutionen.
Die Ukraine kennt diese Gefahr aus eigener Erfahrung. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Oligarchie, die ihr Vermögen primär aus der Kontrolle von Bergbau und Metallurgie bezog, ist ein warnendes Beispiel. Doch nun strebt das Land einen anderen Weg an: Statt nur die Schätze aus der Erde zu holen und zu exportieren, sollen sie als Fundament für eine moderne Industrienation dienen.
Die ukrainische Strategie gleicht dabei einem komplexen Schachspiel: Die Rohstoffe sind nicht einfach Exportware, sondern strategische Figuren auf dem Brett der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Durch die Kombination von Rohstoffförderung und industrieller Weiterverarbeitung soll eine Wertschöpfungskette entstehen, die wie ein stabiles Gerüst die gesamte Wirtschaft trägt. Qualifizierte Arbeitsplätze, Technologietransfer und die Integration in europäische Produktionsnetzwerke sind die Säulen dieser Strategie.
Energie- und Transportinfrastruktur
Die Ukraine verfügt über eines der am besten entwickelten Gasnetze der Welt, was für die Zukunft des Energiesektors des Landes eine wichtige Rolle spielen wird. Da die Ukraine zu Sowjetzeiten Hauptstromlieferant war, besitzt heute ihr Elektrizitätsnetz redundante Kapazitäten, was es erlaubt, bei russischen Angriffen Umgehungsmöglichkeiten für zerstörte Verbindungen zu schalten.
Die Energieinfrastruktur umfasst 15 Kernreaktorblöcke an vier Standorten, 66 Wärmekraftwerksblöcke an 13 Standorten, 30 Wasserkraftwerke entlang der großen Flüsse sowie erhebliche Potenziale für Windenergie, die auf 435 Gigawatt geschätzt werden. Das entspricht etwa dem Dreifachen der aktuellen Stromproduktionskapazität Deutschlands. Besonders die südlichen Regionen und die Schwarzmeerküste bieten ideale Bedingungen für Offshore- und Onshore-Windparks. Diese könnten mittelfristig nicht nur die ukrainische Energieversorgung sichern, sondern auch Exportkapazitäten für den europäischen Markt schaffen.
Logistische Neuausrichtung
Die Ukraine plant den systematischen Ausbau von Transportkorridoren. Eine Nord-Süd-Achse soll die Verbindung von der Ostsee zum Schwarzen Meer herstellen, während eine Ost-West-Achse einen Transportkorridor von Lissabon bis Charkiw schaffen soll, wie Schymal in Berlin darlegte. Hinzu kommen die Modernisierung der Hafeninfrastruktur am Schwarzen Meer und die Integration in europäische Logistiknetzwerke. Diese Planungen für entsprechende Transportkorridore sind in drei Phasen angelegt: Bis 2026 soll die Nord-Süd-Verbindung zur Ostsee modernisiert werden, bis 2028 folgt der Ausbau der Schwarzmeerhäfen. Die Ost-West-Achse ist als längerfristiges Projekt bis 2030 konzipiert. Vorrangig sind dabei der Ausbau der Schieneninfrastruktur und die Anpassung an europäische Spurweiten.
Geopolitische Dimension
Die Rohstoffstrategie der Ukraine ist eng mit ihrer sicherheitspolitischen Lage verknüpft. Internationale Konzerne, die in den Konfliktgebieten investieren, benötigen robusten militärischen Schutz. Dies würde die Geberländer zu einem verstärkten Engagement für die territoriale Integrität der Ukraine zwingen.
Der ukrainische Politikwissenschaftler Igor Tschalenko vom Zentrum für Analysen und Strategien bestätigt: „Die Präsenz amerikanischer Unternehmen wäre eine Art Schutzschild, der die Entscheidungen der US-Regierung über die Sicherheit bestimmter ukrainischer Regionen beeinflussen würde.“
Risiken und Perspektiven
Die akute Kriegssituation birgt erhebliche Risiken. Wie ein Schuldner, dem das Wasser bis zum Hals steht, könnte die Ukraine gezwungen sein, ihre wertvollen Rohstoffe weit unter Wert zu verhökern. Internationale Erfahrungen zeigen, dass einmal geschlossene Rohstoffverträge sich später kaum nachverhandeln lassen.
Auch räumlich gleicht die Situation einer tickenden Zeitbombe: Ein wesentlicher Teil der Bodenschätze liegt in russisch besetzten oder heftig umkämpften Gebieten. Würde der Frontverlauf zur dauerhaften Grenze, wären diese Vorkommen für die Ukraine auf absehbare Zeit verloren – und mit ihnen die darauf aufbauende Entwicklungsstrategie. Bei einer Verfestigung der aktuellen Frontlinien zu einer dauerhaften Waffenstillstandslinie würden Investitionen in diesen Risikogebieten praktisch unmöglich. Dies könnte ein Motiv für Russland sein, den Konflikt fortzusetzen und die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine zu blockieren.
Doch was bedeutet es für eine Nation, wenn ihr buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird? Die ukrainische Rohstoffstrategie verbindet drei zentrale Elemente: das erhebliche Rohstoffpotenzial des Landes, dessen strategische Bedeutung für die globale Versorgung mit kritischen Mineralien und die Chance zur industriellen Transformation. Der Erfolg dieser Strategie hängt von drei Faktoren ab: der militärischen Rückgewinnung der ressourcenreichen Gebiete, der Etablierung verlässlicher rechtlicher Rahmenbedingungen für internationale Investoren und dem Aufbau einer modernen Verarbeitungsindustrie. Gelingt diese Kombination, könnte die Ukraine nicht nur ihre Position als Rohstofflieferant stärken, sondern sich als integraler Bestandteil der europäischen Industrielandschaft etablieren.