Fegefeuer und Zuckerwatte

Kritik zu Ferenc Molnárs „Liliom“ am Berliner Ensemble

Kritik zu Ferenc Molnárs „Liliom“ am Berliner Ensemble

Kann ein Gewalttäter erlöst werden? Ferenc Molnárs „Liliom stellt diese existenzielle Frage mit katholischer Metaphysik und Rummelplatz-Romantik. Christina Tscharyiskis Inszenierung am Berliner Ensemble verwandelt das Jenseits in rosa Pastelltöne und macht aus Kyrre Kvam einen modernen Charon. Ein Stück über zweite Chancen in Zeiten, wo Berliner Theater um ihre Existenz bangen müssen.

Ferenc Molnárs Liliom kehrt zurück nach Berlin, ein Jahrhundert nach dem Berthold Brecht das Theater hier revolutionierte. Im Neuen Haus des Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm verwandelt Regisseurin Christina Tscharyiski die ungarische Vorstadtlegende von 1909 in eine intensive Betrachtung über Schuld, Vergebung und die Möglichkeit menschlicher Wandlung. Jannik Mühlenweg, der den namensgebenden Liliom darbietet, ist ihr hier durch Wandelbarkeit und Rohheit im Spiel ein hilfreiches Werkzeug.

Die 110-minütige pausenlose Aufführung, die am 5. Dezember 2024 Premiere feierte, entstammt einer Epoche des Friedens – 37 Jahre waren seit der deutschen Reichsgründung 1871/72 vergangen, Wien war diplomatisches Weltzentrum der Donaumonarchie. Molnár schreibt aus einer Zeit, die noch nichts ahnt vom Leid, das fünf Jahre später vom Balkan ausgehen wird.

Anatomie eines Habenichts

Liliom – sein bürgerlicher Name Endre Závoczki kommt erst im Jenseits zur Sprache, „mütterlicherseits“, wie er präzisiert – ist ein Bastard ohne Ordnung. Niemand hat ihm gezeigt, wie man anständig lebt: Pass beantragen, Quittungen sortieren, einen Hausstand führen. Als Frau Muskát ihn rauswirft, steht nur eine seesackgroße Tasche da, die »auch noch immer einfach rum steht« – sein ganzer Besitz, Symbol einer Heimatlosigkeit, die ihn zum Habenichts macht.

Die 18-jährige Julie, gespielt von der begabten Österreicherin Lili Epply, selbst ein Dienstmädchen ohne Sicherheit, verliert für diesen Mann ihre Anstellung. »Seit zwei Monaten sitzt du hier mit ihr«, konstatiert Frau Muskát – eine Beziehung, intensiv wie ein Fiebertraum, die in wenigen Wochen vom ersten Blick zur Schwangerschaft führt. Alleinerziehende Mütter waren zur damaligen Zeit nicht selten, aber problematisch.

Das Selbstmördergericht in von Ferenc Molnárs „Liliom“ in der Fassung von Christina Tscharyiski am Berliner Ensemble
Das Selbstmördergericht in von Ferenc Molnárs „Liliom“ in der Fassung von Christina Tscharyiski am Berliner Ensemble © BE / Jörg Brüggemann

Der Zeitdruck wird existentiell: Das Kind kommt in sechs Monaten, die Raubbeute aber braucht sechs Monate vergraben in der Erde und weitere sechs Monate Wartezeit – zwölf Monate insgesamt, zu lang für die nahende Geburt. Stutzer hatte längst den Plan gefasst, den Kassierer Linzmann zu überfallen – jenen Juden, der wöchentlich die Löhne der nahen Lederfabrik an die Arbeiter auszahlt. Die geplante Beute: 16.000 Kronen, eine weitere Sechzehn in Molnárs numerologischem System. Selbst die acht Kreuzer für die Straßenbahn – „acht hin und acht zurück“ – ergeben zusammen 16.

Gnade des Fegefeuers

Molnárs Drama bewegt sich von Beginn an auf einer religiös-metaphysischen Ebene, die weit über das soziale Milieu hinausweist. Als der Raubüberfall scheitert – Linzmann ist erfahren, bietet dem Küchenmesser, das Liliom zögernd mitgebracht hatte, eine geladene Pistole auf und führt zudem bereits leere Taschen bei sich – ersticht sich Liliom, um der Schmach zu entgehen. Doch es wartet keine ewige Verdammnis, sondern ein Selbstmördergericht – Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit selbst für die Verzweifelten.

Die 16 Jahre Fegefeuer, die ihm auferlegt werden, sind nicht Strafe, sondern Läuterung. Das Fegefeuer – jener Zwischenraum zwischen Erde und Himmel, in dem die Seelen von ihren Sünden gereinigt werden – ist die katholische Antwort auf die Frage nach göttlicher Gerechtigkeit. Hier können auch die scheinbar Verlorenen geläutert werden. Verzweiflung wird zum mildernden Umstand: Wer sich das Leben nimmt, muss zutiefst hoffnungslos gewesen sein.

Besonders bemerkenswert ist der Hinweis, dass „der Jude“ nach dem vielleicht misslungenen Überfall nicht zurückkäme – eine subtile Anspielung auf unterschiedliche Jenseitsvorstellungen. Im Judentum gibt es weder Hölle noch Fegefeuer, Seele und Leib sind nach dem Tod zunächst getrennt. Molnárs theologische Bildung zeigt sich in solchen Details.

Marie und Hugo als Gegenentwurf zu Julie und Liliom
Marie und Hugo als Gegenentwurf zu Julie und Liliom © BE / Jörg Brüggemann

Charon am Karussell der Seelen

Kyrre Kvam, der sowohl Linzmann verkörpert als auch live musiziert, fungiert als zentraler Mittler zwischen den Welten. Er ist nicht der verführerische Mephisto, sondern Charon – jener Fährmann der griechischen Mythologie, der die Toten über den Styx ins Jenseits geleitet. Diese Interpretation wird durch seine Funktion bestätigt: Kvam setzt die Drehbühne in Bewegung wie ein Karussell des Schicksals und begleitet alle Übergänge zwischen Diesseits und Jenseits.

Seine omnipräsente Bühnenpräsenz – er beginnt das Stück mit seinem Gesang – macht ihn zum eigentlichen Regisseur des metaphysischen Geschehens. Die Musik oszilliert zwischen Jahrmarktsnostalgie und Schubert’scher Melancholie, schafft Atmosphäre für die Seelenreise.

Rosa Unschuldsästhetik und grüne Erlösung

Hans Fründts Lichtkonzept ist Dramaturgie in Farbe. Die rosa Grundbeleuchtung evoziert Zuckerwatte und gebrannte Mandeln, während sie gleichzeitigt die Abgründe der Geschichte konterkariert. Diese rosa Unschuldsästhetik hebt das brutale Geschehen auf eine parabelhafte Ebene – der Rummel ist nicht unschuldig, doch das Rosa bringt eine verklärende Süße.

Dominique Wiesbauers Bühnenbild verwandelt den Theaterraum in ein surreales Rummelzelt. Die fragmentarischen Karussell-Teile bilden eine „längst morbide Karussell-Landschaft“, der Airbrush-Hintergrund mit dem Frauenabbild hat einen Spalt, durch den die Schauspieler wie durch einen Vorhang verschwinden können.

Besonders eindrucksvoll ist der Farbwechsel zu Grün bei Lilioms Rückkehr nach 16 Jahren Fegefeuer. Die grüne Beleuchtung signalisiert Hoffnung und Neubeginn – visueller Kommentar zur Möglichkeit der Erlösung. Die subtil fahrenden Lichtröhren schaffen eine Atmosphäre zwischen Sakralraum und Vergnügungspark.

Gericht als barocker Theatertraum

Die Inszenierung des Selbstmördergerichts durch Bühnennebel, verfremdete Stimmen und absurde Masken schafft eine traumähnliche Sequenz. Die vier Richter-Figuren werden durch Masken wieder erkennbar, doch ihre Verfremdung macht sie zu Archetypen göttlicher Gerechtigkeit.

Hier zeigt sich Molnárs theologische Raffinesse: Das Gericht fragt nicht nach Schuld, sondern nach Bereitschaft zur Wandlung. »Haben Sie bereut?« ist die entscheidende Frage. Die katholische Beichtpraxis wird zur Dramaturgie des Jenseits – nicht die Tat zählt, sondern die Reue.

Wenn Liliom seine wahre Identität preisgeben muss – „Endre Závoczki. Nach meiner Mutter“ – kommt beim göttlichen Gericht alles auf den Tisch, auch das Verborgene. Der uneheliche Sohn trägt den Mutternamen, sozialer Makel einer Zeit, die solche Kinder als „Bastarde“ brandmarkte.

Marie und Hugo als Gegenentwurf

Das Paar Marie (Joyce Sanhá) und Hugo (Adrian Grünewald) verkörpert den Gegenentwurf zu Liliom und Julie – sie zeigen, wie es gehen kann, wenn man sich zusammenreißt. Hugo, einst Kofferträger, wird Gerichtsdiener, dann Cafébesitzer. Sie leben spießig-glücklich, haben fünf Kinder, siezen sich aus Höflichkeit.

Doch selbst in der Justiz, im Herstellen irdischer Gerechtigkeit herrscht Klassenjustiz, wie Stutzer erklärt: „Für die feinen Leute gibt’s den Himmel. Für arme Schlucker wie wir gibt’s die Polizei.“ Das Diesseits spiegelt sich im Jenseits – wer mehr zahlt, bekommt schönere Musik.

Terézia Moras sprachliche Renaissance

Die Neuübersetzung von Terézia Mora, eigens für das Berliner Ensemble angefertigt, ist kulturpolitischer Gewinn. Während Alfred Polgárs berühmte Wiener Fassung das Stück ins Österreichische verlegte, holt Mora es ins zeitgemäße Hochdeutsche zurück. Ihre behutsame Modernisierung bewahrt Molnárs poetische Kraft, korrigiert aber entscheidende Übersetzungsfehler: „Ficsúr“ wird wieder zu „Stutzer“, denn das bedeutet der ungarische Name – und Oliver Kraushaar verkörpert diese Figur mit der nötigen gefährlichen Eleganz. Umgekehrt erhält Hugo seinen ursprünglichen Namen zurück, den Polgár in Wolf geändert hatte. „Hugo ist ein wunderbarer Name für eine Figur, die einen Füllfederhalter ‚Selbstfüllfeder‘ nennt“, begründet Terézia Mora ihre Entscheidung.

Im Originaltext lässt Molnár Liliom am Ende sagen: „Dass ich dich geschlagen habe … du weißt, dass ich recht hatte … und du musst dich daran nicht erinnern … sag: soll doch der Liliom recht haben … weil mir eh gleich ist, wer recht hat …“ Diese Passage zeigt psychologische Präzision – Liliom kann bis zuletzt nicht um Vergebung bitten, obwohl er seine Schuld erkennt.

Sechzehn-Jahre-Symbolik

Die Zahl 16 durchzieht das Stück wie ein numerologisches Leitmotiv: 16 Jahre Fegefeuer, sechzehntausend Kronen Raubbeute, sechzehn Kreuzer für die Straßenbahn, Luisa wird 16 Jahre Alt bei Lilioms Rückkehr. In der christlichen Zahlensymbolik steht die Zahl sechzehn wohl für Vollendung durch Läuterung – vier (irdische Vollkommenheit) mal vier.

Österreichisches Spiel im märkischen Sand

Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet ein überwiegend österreichisches Ensemble – Christina Tscharyiski, Lili Epply, Oliver Kraushaar – dieses Alpen-Flair in den märkischen Streusand bringt. Lili Epply, die an der Wiener Ballettschule begann, erweist sich als Geschenk für Berlin. Ihre Julie ist eine Frau von stiller Stärke.

Wenn Julie am Ende zu ihrer Tochter sagt: „Kann es sein, dass jemand einen so heftig schlägt … und es einem nicht weh tut?“ und antwortet: »Ja, mein Kind. Das ist mir schon einmal passiert«, wird Liebe zur metaphysischen Kraft, die Schmerz in Zärtlichkeit verwandelt.

Kulturpolitische Dimension

Dass in Zeiten, da Berlins Senat unter Kai Wegner und der glücklose Senator Joe Chiallo die Theaterlandschaft mit Sparmaßnahmen bedrohen, noch solche Neuproduktionen entstehen, grenzt an ein Wunder. Die Mühe einer eigens angefertigten Übersetzung zeigt, was möglich ist, wenn Theater als kulturelle Aufgabe verstanden wird.

Empfehlung mit Herz

Liliom am Berliner Ensemble ist ein Stück, das Emotionen weckt und Menschen, die sich berühren lassen wollen, packt – alle anderen streichelt es wenigstens im Herzen. Die metaphysische Erlösungsthematik wurde überzeugend getroffen, Bühnenbild, Licht und Dramaturgie haben gemeinsam mit Christina Tscharyiski bedeutende Arbeit geleistet.

Das menschliche Sein bleibt ein Rätsel – aber manchmal, wie in dieser Liliom-Inszenierung, erhalten wir für 110 Minuten das Gefühl, seiner Lösung nahezukommen. Zwischen Fegefeuer und Zuckerwatte, zwischen Schuld und Vergebung entfaltet sich ein Theaterabend, der beweist: Auch nach 16 Jahren – oder 115 Jahren seit der Uraufführung – ist eine zweite Chance möglich.

Dieser Text wurde am 26. Mai 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.