Die Stadt wird von Lieferdiensten und Restaurants dominiert, während die Brotbüchse zum Symbol vergangener Zeiten verkümmert. Doch in dieser unscheinbaren Box verbirgt sich mehr als ein Behältnis – sie steht für eine Esskultur der Selbstbestimmung. Ist die Rückeroberung kulinarischer Freiheit der Luxus, den wir uns heute wirklich leisten sollten?
Meine Brotbüchse ist aus Metall und früher hatte ich eine aus halbtransparentem Plastik mit einem Trennfach gegen verrutschende Brote. In meiner Familie kamen die Speisen ohne zusätzliche Umhüllung hinein, andere wickelten ihre Stullen noch in Papier oder Alufolie. Die Stulle wird in der Brotbüchse konserviert und zum selbstbestimmten Mahl eleviert. Heute sieht man das immer seltener – wann geriet unsere Welt aus den Fugen und stellte auf Restaurantbesuche um statt sich was mitzunehmen?
Es war Auguste Escoffier, der vor 150 Jahren dem Restaurantbesuch seinen Nimbus der Exklusivität verlieh. Was damals distinguierte Freizeitgestaltung des Bürgertums war, ist in unserer Gegenwart zur merkwürdigen Selbstverständlichkeit geworden. Die Metamorphose vollzog sich etappenweise: In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden die ersten Betriebsküchen als pragmatische Antwort auf die Schichtarbeit – eine Mahlzeit außer Haus aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, nicht als lifestylegetriebener Konsum.
Von der Freiheit zur bedürftigen Esskultur
Wie obskur erscheint heute die Epoche der allgegenwärtigen Brotbüchse! Sie war mehr als Behältnis – sie war Ausdruck von Eigenständigkeit, häuslicher Fürsorge und ökonomischer Vernunft. In ihrer Funktionalität verkörperte sie eine Selbstbestimmung, die wir heute mit erstaunlicher Leichtfertigkeit preisgeben. Ein Anachronismus, so scheint es – dabei ist sie Symbol einer kulinarischen Haltung, die wir wieder zu schätzen lernen sollten.
Doch wann vollzog sich dieser Wandel? Die mediale Darstellung suggeriert eine Normalität des Auswärtsessens, die sich jeder kritischen Überlegung entzieht. In Lifestyle-Magazinen und sozialen Medien wird der tägliche Restaurantbesuch oder die Lieferdienstbestellung als natürlicher Bestandteil modernen Lebens inszeniert. Als wäre tägliches Bedientwerden das apodiktische Erfordernis unserer Zeit.
Kolonisierung des Stadtraums
Die Stadt ist der Monotonie anheimgefallen. Wo einst der Schreibwarenladen, der Fisch-, der Blumenladen oder der Fleischer das Straßenbild prägten, dominieren nun Restaurants fragwürdiger Qualität. Die vermeintliche Vielfalt täuscht: Überall die gleichen auf deutschen Geschmack abgewandelten Speisen in oller gebundener Soße, Pommes aus der Tüte mit frittiertem Schnitzel, Dönerläden, die auch Pizza anbieten. Die Stadt verliert ihr Gesicht – ein kulinarischer Einheitsbrei, der die Viertel in gastronomische Wüstenlandschaften verwandelt.
Und das Lieferessen! Diese Stufe kulinarischer Entfremdung verdient besondere Betrachtung. Uniformierte Fahrradkuriere durchziehen die Straßen mit dampfenden Styroporschachteln, deren Inhalt mit jedem Kilometer an Qualität verliert. Die Prozession der Plastiktüten durch Treppenhäuser ist zum dystopischen Sinnbild unserer Zeit geworden. Die Wärmedeckchen in den Transportboxen kämpfen vergeblich – die Fritten labbrig, die Soße entmischt, das einst knusprige Fleisch schlaff auf durchweichtem Gemüse.
Für dieses zweifelhafte Vergnügen: dreißig Prozent Aufschlag plus Liefergebühr plus Trinkgeld für den prekär beschäftigten Fahrer. Eine absurde Kakophonie aus Kosten und Kompromissen. Diese Form des Speisens ist weder ökonomisch, noch ökologisch, noch kulinarisch zu rechtfertigen – ein Symptom kollektiver Bequemlichkeit, die Qualität, Geschmack und finanzielle Vernunft opfert. Dabei sitzt der Konsument doch zuhause! Die Zeit für ein einfaches selbstzubereitetes Gericht wird stattdessen vor dem Bildschirm vertrödelt, wartend auf die enttäuschende Lieferung.
Esskultur als Pfad zur Freiheit
Selbstversorgung ist Freiheit. Es ist ein Gewinn an Autarkie, nicht von Öffnungszeiten oder Liefergebühren eines börsennotierten Unternehmens abhängig zu sein. Eine simple Kartoffel birgt mehr kulinarische Möglichkeiten als so manches Restaurantmenü: Als Püree, als Salat oder neben Brechbohnen serviert – ohne Warten, ohne Gang durch den Regen, ohne Plastiktüten.
Die Rückbesinnung auf die Kunst der Selbstversorgung ist kein nostalgischer Reflex, sondern ein Plädoyer für kulinarische Autonomie. Es geht um die Freude am eigenen Tun, um Kontrolle über Zutaten und nicht zuletzt um eine Unabhängigkeit, die in Zeiten allgegenwärtiger Verfügbarkeit zum wahren Luxus geworden ist. Eine authentische Esskultur entsteht nicht durch täglichen Konsum, sondern durch bewusste Zubereitung.
Letztlich liegt es an jedem Einzelnen, welche Rolle der Gastronomie im Leben zugestanden wird – und welcher Wert der vergessenen Kunst des Sich-etwas-Mitnehmens beigemessen wird. In einer Welt scheinbar grenzenloser kulinarischer Möglichkeiten erweist sich die Fähigkeit zur Selbstversorgung vielleicht als die eigentliche Form der Distinktion.