Neulich bin ich mal wieder über das Zitat von John F. Kennedy gestoßen, man solle zunächst fragen was man für sein Land tun solle und nicht was das Land für einen selbst. Ich habe schon oft über diese Phrase nachgedacht und sie nie ganz verstanden. Sie transportiert aber ein mir fremdes Weltbild – sicher geht es bei näherer Betrachtung vielen Menschen so.
Es gibt Sätze, die werden mit solcher Inbrunst zitiert, als hätte man das Evangelium der Demokratie entdeckt. „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.“ In Festreden, politischen Manifesten und staatstragenden Sonntagsreden wird dieser Satz des verstorbenen US-Präsidenten Kennedy wie ein Orakelspruch vorgetragen. Dabei steht man fassungslos daneben und fragt sich: Woher rührt diese andächtige Verehrung des Banalen?
Wer wie ich in den 1990er Jahren in Ostberlin aufwuchs, kann über diese vermeintliche Erleuchtung nur befremdet den Kopf schütteln. Als wäre es eine epochemachende Erkenntnis, dass Menschen füreinander einstehen. Als bedürfte es erst der Mahnung eines Präsidenten, um die Selbstverständlichkeit des Miteinanders zu begreifen. Der pathetisch vorgetragene Appell hallt in unseren Ohren wie ein überflüssiges Echo längst gelebter Wirklichkeit.
In der katholischen Kirchengemeinde, wo sich das Gemeindeleben in der Eucharistie als Gemeinschaft der Gläubigen in der Gemeinschaft als Teil der Weltkirche manifestiert, war die Sorge um den Nächsten keine präsidiale Direktive, sondern gelebter Alltag. Die katholische Soziallehre, die seit Generationen das Gemeinwohl als Richtschnur allen Handelns begreift, musste nicht erst von einem Staatsoberhaupt in Erinnerung gerufen werden. Wenn Papst Franziskus heute von der „Kultur der Begegnung“ spricht, knüpft er an diese tiefverwurzelte Tradition an, die das „Wir“ nicht erst mühsam aus der Taufe heben muss.
Kennedys hohle Worte
Der Kontrast zwischen dem alten Kontinent und Amerika offenbart hier einen geradezu tektonischen Kulturbruch: Während die USA von rastlosen Siedlertrecks und einem geradezu mythisch überhöhten Pionierindividualismus geprägt wurden, entfaltete sich in Europa über Jahrhunderte eine vielschichtige Kultur der Verbundenheit. Die europäischen Nationalstaaten erwuchsen nicht aus der Vereinzelung, sondern aus dem dichten Gewebe gewachsener Gemeinschaften. Bis heute durchdringt diese Haltung unsere Verfassungen: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Was Kennedy als moralische Großtat beschwört, ist hier schlichter Verfassungsalltag.
Europas andere Tradition
Diese gemeinschaftliche Verwurzelung durchzieht wie ein roter Faden alle Schichten des europäischen Lebens: vom quirligen Stadtviertel über das pulsierende Vereinsleben bis hin zum sprichwörtlichen Berliner „Kiez“ mit seiner eigenen sozialen Gravitationskraft. Das Miteinander beschränkt sich nicht auf die Blutsbande oder den engen Familienkreis, sondern umspannt die vielfältigen Lebenswelten des Alltags. Vor diesem Hintergrund erscheint der individualistische Appell Kennedys wie ein verzweifelter Versuch, etwas heraufzubeschwören, das in Europa nie zur Disposition stand.
Gerade die seltsame Strahlkraft des Kennedy-Zitats im heutigen Deutschland nährt die Besorgnis. Sie zeugt von einer schleichenden Erosion gesellschaftlicher Bindungen, die ihre Selbstverständlichkeit einzubüßen drohen. Der Kontrast zur puritanisch-calvinistischen Tradition der USA tritt hier besonders scharf hervor: Während dort der Individualismus theologisch verklärt und die Gemeinschaft zum Gegenstand präsidialer Beschwörungen wird, war in Europa die Balance zwischen Einzelnem und Gesellschaft stets natürlicher Bestandteil der sozialen DNA.
Des Präsidenten falsche Formel
Meine Position im Zwischenreich der Welten – herangewachsen im vereinten Deutschland, eingebettet in eine katholische Gemeinde und umgeben von Menschen, deren moralischer Kompass noch von kollektiver Verantwortung geeicht war – macht diese Kluft besonders augenfällig. Die Generation der Nachwendekinder wurde Zeuge eines tektonischen Übergangs: von einer Gesellschaft, die das Miteinander als Ausgangspunkt allen Handelns verstand, zu einer Ordnung, die den Individualismus glorifiziert und dann händeringend nach gesellschaftlichem Kitt sucht.
Vielleicht liegt gerade in dieser kritischen Distanz zum Kennedy-Mythos eine Chance zur Besinnung: Sie könnte den Blick schärfen für die Wiederbelebung jener gemeinschaftlichen Traditionen, die in Europa nie gänzlich verschüttet wurden – vom lebendigen Kiez bis zur weltumspannenden Kirche, vom vitalen Vereinsleben bis zum fürsorgenden Sozialstaat. Eine solche Renaissance wird sich allerdings kaum aus präsidialen Floskeln speisen können, sondern nur aus der Revitalisierung jener vielschichtigen Gemeinschaftskultur, die Europa seit Jahrhunderten prägt. Der viel beschworene Kennedy-Satz wäre dann endlich das, was er aus europäischer Warte immer war: eine überflüssige Fußnote der Geschichte.