Kaltes Berlin | Patrick Pehl
Berliner Momente

Kaltes Berlin

Der ICE fährt in das unterirdische Gewölbe des Berliner Hauptbahnhofs ein. Die Bremsen bringen ihn sanft und präzise zum Stehen. Die Türen öffnen sich, und der Zug entlässt seine menschliche Fracht auf den gefüllten Bahnsteig und auf den Granitplatten treffen Absätze mit einem verhallenden Geräusch auf.

I. Sonntagabend, Hauptbahnhof

Wie eine Insel in der Bewegung, die eleganten Schritte einer einzelnen Frau. Ihr Rollkoffer folgt, ein regelmäßiger Begleiter. Die Frau bewegt sich mit bedachter Routine zum Vorplatz, zu einer schwarzen Limousine mit einem Kennzeichen der Fahrbereitschaft – diskret, aber für Kenner eindeutig. Der Motor läuft bereits und der Fahrer wartet, warme Abgasschwaden steigen hinter dem polierten Wagen auf. Der Fahrer öffnet die Tür mit einer eingeübten Geste – kein gesprochener Gruß, nur eine technische Präzision, die den Übergang von der lärmenden Öffentlichkeit in die gepolsterte Stille des Fahrzeugs markiert. Die Tür schließt sich und die Außenwelt schiebt sich davon.

Jede Ampel, jede Kreuzung sind weitere Koordinaten auf der vorgezeichneten Bahn zwischen den Planeten dieses einstudierten Getriebes. Die jährliche kontinentale Ostlage, eine Kaltluftadvektion, lässt im Winter kalte, trockene Luftmassen aus dem sibirischen Hochdruckgebiet nach Mitteleuropa strömen. Die kontinentale Kälte aus dem Osten hat Berlin erreicht. Diese Luftmasse stammt aus den Höhen des Polarmeers und dem arktischen Sibirien, sie kriecht über den harten Berliner Asphalt und schiebt sich zwischen den Häuserzeilen entlang.

II. Die Wohnung

Die Wohnung empfängt sie mit wohltemperierter Leblosigkeit. Ihre Schritte hallen durch die aufgeräumten Räume des renovierten Altbaus, während der Rollkoffer seinen Platz findet. Im Kühlschrank wartet ein hartes Stück Butter neben einem Fertigessen in Pappverpackung – stumme Zeugen einer zweckmäßigen Existenz. Das Geschirr im Schrank: ohne Gebrauchsspuren. Das Besteck: unberührt in der Schublade.

Die Ordnung des perfekt gemachten Bettes wird erst durch die bewusste Hinnahme des Schlafes gebrochen. Eine notwendige menschliche Spur in der sterilen Umgebung.

III. Montag, Paul-Löbe-Haus

Der Wecker klingelt später als in der Heimat. Die morgendliche Routine vollzieht sich in bedachten Bewegungen. Gegen 10:00 Uhr erwarten die Mitarbeiter sie im Büro. Die Fahrdienstlimousine dient als gesetzlichgarantierte Vereinzelungsanlage, trägt sie durch die erwachende Stadt. Das Paul-Löbe-Haus erhebt sich: blaugrauer Beton, der Eingang aus Stahl und Glas. Der graue Abgeordnetenausweis ermöglicht die reibungslose Passage durch die Sicherheitsanlage.

Der einzige menschliche Kontakt bleibt der Fahrer der Limousine. Er bringt sie an den Ort, an dem sie ein Jemand ist: Frau Abgeordnete. Die Rolle nimmt sie an wie ein maßgeschneidertes Kleidungsstück. Besprechungen folgen, der Arbeitstrubel baut sich langsam auf. Am Abend: Vorbereitung kommender Termine der nächsten Tage. Ihre Aufmerksamkeit wandert von Dokument zu Dokument, nimmt jeden Vorgang mit gleichbleibender Sorgfalt auf.

IV. Die stahlkalte Einsamkeit der Gänge

Spät abends reduziert die Haustechnik das Licht auf ein Minimum. Die stahlkalte Einsamkeit wird greifbar. Das helle Grau des Tages wandelt sich in ein düsteres Blaugrau, das jedes Licht zu schlucken scheint. Die Fensterrahmen aus Beton und Stahl schneiden geometrische Muster aus der Nachtschwärze. Vereinzelt steht eine Bürotür offen, ein schmaler Streifen warmweißen Lichts dringt in den Flur – ein kurzes Aufbegehren gegen die allgegenwärtige Kälte des Raumes. Das graue Blau frisst das güldene Gelb. Die Temperatur sinkt unmerklich, aber stetig.

Ihre Schritte durch diese nächtlichen Gänge sind präzise, zielbewusst. Keine Eile, keine Verzögerung. Nur die stetige Bewegung durch die geometrische Kälte.

V. Donnerstag, Die Ausschusssitzung

Die Ausschusssitzung beginnt nach dem Mittagessen. Draußen wirft die winterliche Sonne noch Helligkeit in die polarkalte Stadt. Erst die vorbereitende Sitzung mit den Fraktionsmitgliedern. Dann die Vorbereitung mit dem Ausschuss für die öffentlichen Teile des Tages.

Die Luft ist trocken und verbraucht, die Lüftungsanlage schiebt unermüdlich Außenluft hinein. Die Kälte kriecht durch die großen Glasfensterflächen. Sie kommt aus dem Osten, aus Sibirien, wo sie sich über verschneiten und gefrorenen Böden gebildet hat. Eine jährliche kontinentale Kaltluftadvektion, die ihren Ursprung über dem Polarmeer hat. Sie durchdringt die Stadt, die Gebäude, die Menschen.

Mit ernster Präzision werden Seiten gewendet. Ihre Hände bewegen sich bedacht über die Dokumente, folgen den Zeilen mit ruhiger Aufmerksamkeit. Die konzentrierte Stille wird nur vom gelegentlichen Rascheln des Papiers unterbrochen. Ab und an verrät ein verzweifelter Griff zur Kaffeetasse die wachsende Erschöpfung der Anwesenden. Sie nimmt einen bewussten Schluck, ihre Haltung bleibt aufrecht. Während die ersten Stunden der öffentlichen Sitzung vergehen, zieht sich die Sonne langsam hinter die kahlen Baumkronen zurück. Sie versinkt hinter den Hausdächern des Regierungsviertels.

Die erste Unterbrechung kommt, als es draußen bereits kalt ist. Manche schaffen es nicht ohne kurze Flucht auf das Raucherdeck – mehrere Etagen und hundert Gehmeter entfernt. Die Sitzung zieht sich weiter. Die Nacht wartet, während sie mit gleichbleibender Konzentration den Vorgängen folgt.

Dieser Text wurde am 21. November 2024 in Berlin veröffentlicht.
Profilbild von Patrick Pehl

Patrick Pehl

Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.