Friedrich Merz

Der überalterte Newcomer Friedrich Merz

Kann ein fast Siebzigjähriger die Geschicke des Landes leiten und die Probleme der Menschen verstehen? Mit 69 Jahren steht Friedrich Merz an der Schwelle zum Kanzleramt – ein Mann ohne Regierungserfahrung, der älter ist als fast alle seine Vorgänger. Ausgerechnet der Westen, der einst über greise Sowjetführer spottete, setzt nun auf einen politischen Rentner ohne Exekutiverfahrung.

In wenigen Wochen dürfte Friedrich Merz Bundeskanzler werden. Der 69-jährige CDU-Politiker, der nach zwanzigjähriger politischer Abstinenz zurückkehrte, führte die Union zum Wahlsieg am 23. Februar 2025. Während die intrikaten Koalitionsverhandlungen mit der SPD laufen, bleibt die entscheidende Frage unbeantwortet: Ist ein überalterter Polit-Rückkehrer ohne Regierungserfahrung die richtige Wahl für Deutschlands Zukunft?

„Wer zu spät kommt, den belohnt zuweilen die Geschichte. Doch kann auch des Alters Weisheit in Torheit umschlagen, wenn sie auf Erfahrung pocht, die keine mehr ist,“ warnte einst Bertolt Brecht.

Das Alter der anderen

Nach Konrad Adenauer wäre Merz der zweitälteste Kanzler bei Amtsantritt in der Geschichte der Bundesrepublik, aber nicht nur der alten wie der wiedervereinigten Bundesrepublik, sondern auch der DDR und der oft als besonders alt empfundenen Moskowiter KP-Vorsitzenden:

Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland:

  • Konrad Adenauer (CDU): 73 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 91 Jahren.
  • Ludwig Erhard (CDU): 66 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 75 Jahren.
  • Kurt Georg Kiesinger (CDU): 59 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 79 Jahren.
  • Willy Brandt (SPD): 55 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 78 Jahren.
  • Walter Scheel (FDP): 64 Jahre bei Amtsantritt (als geschäftsführender Bundeskanzler), gestorben im Alter von 94 Jahren.
  • Helmut Schmidt (SPD): 56 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 96 Jahren.
  • Helmut Kohl (CDU): 54 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 87 Jahren.
  • Gerhard Schröder (SPD): 56 Jahre bei Amtsantritt, aktuell 80 Jahre alt.
  • Angela Merkel (CDU): 51 Jahre bei Amtsantritt, aktuell 69 Jahre alt.
  • Olaf Scholz (SPD): 63 Jahre bei Amtsantritt.

Vorsitzende des Ministerrats der DDR:

  • Otto Grotewohl: 55 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 70 Jahren.
  • Willi Stoph: 51 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 79 Jahren.
  • Horst Sindermann: 59 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 78 Jahren.
  • Willi Stoph (erneut): 61 Jahre bei Amtsantritt.
  • Hans Modrow: 61 Jahre bei Amtsantritt, gestorben im Alter von 95 Jahren.
  • Lothar de Maizière: 50 Jahre bei Amtsantritt, aktuell 84 Jahre alt.

Generalsekretäre der KPdSU ab 1949:

  • Josef Stalin: 45 Jahre bei Amtsantritt (1922), gestorben im Alter von 74 Jahren.
  • Nikita Chruschtschow: 60 Jahre bei Amtsantritt (1953), gestorben im Alter von 77 Jahren.
  • Leonid Breschnew: 58 Jahre bei Amtsantritt (1964), gestorben im Alter von 75 Jahren.
  • Juri Andropow: 68 Jahre bei Amtsantritt (1982), gestorben im Alter von 69 Jahren.
  • Konstantin Tschernenko: 72 Jahre bei Amtsantritt (1984), gestorben im Alter von 73 Jahren.
  • Michail Gorbatschow: 54 Jahre bei Amtsantritt (1985), gestorben im Alter von 91 Jahren.

Die doppelte Paradoxie

Das Durchschnittsalter der EU-Regierungschefs liegt bei 53 Jahren. Selbst Putin war bei seiner zweiten Amtsübernahme 2012 erst 59 Jahre alt – zehn Jahre jünger als Merz heute. Der Westen, der jahrzehntelang über die Gerontokraten im Kreml spottete, installiert nun selbst einen Regierungschef im Rentenalter.

Friedrich MERZ, als MdEP 481 in einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg 1992
Der junge Friedrich Merz war noch in schwarz-weiß, als er als MdEP 481 in einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg 1992. © Communautés européennes – 1989

Merz betritt das Kanzleramt nicht als erfahrener Staatsmann, sondern als politischer Trainee im Pensionsalter. Seine Regierungserfahrung ist schlicht nicht existent. Seine politische Prägung erfolgte im letzten Jahrhundert, bevor er die Politik für volle zwei Jahrzehnte verließ – eine Zeitspanne, in der sich die Welt fundamental verändert hat. Während dieser politischen Auszeit transformierte sich Deutschland zu einem anderen Land mit neuen Machtverhältnissen, Europa erlebte multiple Krisen, die Digitalisierung revolutionierte Wirtschaft und Gesellschaft und neue geopolitische Realitäten entstanden. Und als Ausdruck seiner Sozialisierung kommt der Mann aus dem Sauerland mit Ideen, die älter sind als die Generation Deutscher, die die Teilung des Landes mittels Mauer noch nicht mal mehr kennen. Merz ist ein Mann des Kulturkampfes – Kultur Kampf zwischen Ost und West, Kulturkampf in der CDU, Kulturkampf zwischen Sozialem und verächtlicher „Arsch-hoch-Prämie“.

Nach dieser bemerkenswert langen Absenz kehrt Merz zurück und beansprucht sofort das höchste Regierungsamt. Es ist ein kurioser Zustand, der viele in Politik und Gesellschaft affizieren wird. Es ist, als würde ein Arzt nach zwanzigjähriger Praxispause ohne Fortbildung direkt die Leitung einer Universitätsklinik übernehmen wollen. Friedrich Merz hat es nicht einmal geschafft selbstständig zurück auf die Parteibühne zu kommen, sondern brauchte dazu die Hilfe der Berater von Gauly Advisors – man könnte also unterstellen: So weltfremd ist er.

In jenem Wirtschaftsleben, das er so vehement preist, hätte man ihn längst aussortiert. Keine Personalabteilung eines DAX-Konzerns würde einen 69-Jährigen ohne einschlägige Erfahrung für eine Führungsposition in Betracht ziehen. Doch für das mächtigste politische Amt der Republik soll dieser offensichtliche Widerspruch keine Rolle spielen.

„Auch der ehrlichste Dieb hängt sich nicht selber an den Galgen“, besagt ein russisches Sprichwort. Merz wird kaum selbst eingestehen, dass er zu alt ist und die Komplexität der heutigen Welt nicht mehr vollständig erfassen kann. Die zentrale Frage ist ohnehin eine andere: Sollte Deutschland in Zeiten rapiden technologischen und gesellschaftlichen Wandels auf einen Mann setzen, der weder die Erfahrung noch die generationelle Perspektive mitbringt, um die Zukunft zu gestalten? Einen überalterten Newcomer, dessen politisches Comeback eher von persönlichem Ehrgeiz als von staatsmännischer Weitsicht getrieben scheint.

Aktuelle Regierungschefs der Europäischen Union:

Wenn man nun überlegt, dass das andere Zeiten waren und sich die Alten von heute ja agiler und fitter fühlen, länger leben und schlicht leistungsfähiger als die Siebzigjährigen von vor 30 Jahren – dann sollte man mal in die EU-Mitgliedsstaaten schauen und interessante Schlüsse ziehen. Ich habe das europäische KI-System aus Frankreich mit dem Namen Le Chat von Mistral.AI mal gefragt, wie alt denn so die europäischen Freunde bei Amtsantritt waren:

  • Österreich – Karl Nehammer (51 Jahre)
  • Belgien – Alexander De Croo (47 Jahre)
  • Bulgarien – Nikolai Denkov (51 Jahre)
  • Zypern – Nikos Christodoulides (49 Jahre)
  • Tschechische Republik – Petr Fiala (58 Jahre)
  • Dänemark – Mette Frederiksen (45 Jahre)
  • Estland – Kaja Kallas (46 Jahre)
  • Finnland – Petteri Orpo (54 Jahre)
  • Frankreich – Emmanuel Macron (45 Jahre)
  • Deutschland – Olaf Scholz (65 Jahre)
  • Griechenland – Kyriakos Mitsotakis (55 Jahre)
  • Ungarn – Viktor Orbán (60 Jahre)
  • Irland – Leo Varadkar (44 Jahre)
  • Italien – Giorgia Meloni (46 Jahre)
  • Lettland – Evika Siliņa (48 Jahre)
  • Litauen – Ingrida Šimonytė (49 Jahre)
  • Luxemburg – Luc Frieden (59 Jahre)
  • Malta – Robert Abela (46 Jahre)
  • Niederlande – Mark Rutte (56 Jahre)
  • Polen – Donald Tusk (66 Jahre)
  • Portugal – António Costa (62 Jahre)
  • Rumänien – Marcel Ciolacu (53 Jahre)
  • Slowakei – Robert Fico (59 Jahre)
  • Slowenien – Robert Golob (56 Jahre)
  • Spanien – Pedro Sánchez (51 Jahre)
  • Schweden – Ulf Kristersson (59 Jahre)
  • Kroatien – Andrej Plenković (53 Jahre)

Dieser Text wurde am 4. April 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.