Angela Merkels Portrait

Sie lässt sich nicht festnageln

An dieser Wand des Bundeskanzleramts in Berlin hängen Portraitgemälde der deutschen Bundeskanzler seit 1945. Sie bilden die sogenannte Kanzlergalerie.

Es ist nun schon gut 15 Jahre her, als ich Angela Merkel das erste Mal im Aufzug traf. Eine flüchtige Begegnung, die sich in mein Gedächtnis einbrannte wie ein Lichtbild – jenes Porträt, das die Altkanzlerin der Nation bis heute schuldig geblieben ist. Die über allem schwebende Angela M., einst “FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda”, kürzlich 70 geworden und noch immer ein Rätsel. Sie hat die Kunst der subtilen Botschaftsvermittlung perfektioniert. Ihre Message: protestantische Bescheidenheit, verpackt in die ikonische Merkel-Raute und totschicke Hosenanzüge. Doch hinter dieser Fassade lauert die Meisterin der politischen Ambiguität.

Fast zwei Jahre nach ihrem Exodus aus dem Kanzleramt hadert sie noch immer mit der Wahl ihres Porträtisten – eine Tradition, die seit 1976 für jeden Altkanzler gilt. Ein Spiegel ihrer charakteristischen Unentschlossenheit oder kalkulierte Inszenierung? Merkel, die die Dinge stets vom Ende her dachte, lässt sich nicht festnageln – weder auf Leinwand noch in der kollektiven Erinnerung.

Gas-Gerd springt aus dem Bild

In der Galerie der Kanzlerporträts klafft eine Lücke. Neben Schröders – alias “Gas-Gerd” – extrovertiertem Abbild, das seinen innewohnenden Geltungsdrang förmlich exhaliert und dessen ausdrucksstarkes Porträt deutlich heraussticht, fehlt Merkels enigmatisches Antlitz. Die geborene Hamburgerin, in der Uckermark gereift, hat die Gunst der Stunde stets zu nutzen gewusst, ihre Optionen offen gehalten.

Warten auf ein Zeichen

Ihr Büro im Matthias-Erzberger-Haus summt noch immer vor Aktivität, als wäre die Ära Merkel nie verklungen. Man fabulierte von einer internationalen Karriere bei den Vereinten Nationen oder der NATO, doch das scheint nicht “Merkels Ding” zu sein. Stattdessen verharrt die Nation in einer Erwartungshaltung, die fast monarchische Züge trägt. Die einstige Physikerin hat die Quantenmechanik in die Politik übertragen – sie existiert gleichzeitig in mehreren Zuständen, unberechenbar und doch präzise kalkuliert. Ihr fehlendes Porträt im Kanzleramt ist möglicherweise das akkurateste Abbild ihrer Regentschaft – ein Vakuum, das noch immer auf seine Füllung wartet, während die Republik gebannt zusieht.

So bleibt Angela Merkel, auch post officium, die über allem schwebende Ex-Kanzlerin. Ungreifbar, undefinierbar und doch omnipräsent. Ihr wahres Vermächtnis mag gerade in dieser kultivierten Unbestimmtheit liegen – eine Politikerin, die selbst im Ruhestand die Kunst der Unentschiedenheit zur Perfektion gebracht hat.

Die Nation wartet weiter auf ein Zeichen, eine Geste, ein Porträt. Doch vielleicht ist gerade dieses Warten, diese fortdauernde Ungewissheit, das eigentliche Meisterwerk der Angela M. – ein leerer Rahmen, der mehr aussagt als jedes gemalte Bild es je könnte. Merkel, die Meisterin des politischen Apparats, verkörpert paradoxerweise sowohl Fortschritt als auch Stagnation – eine Synthese, die ihr Erbe ebenso prägt wie ihre ausbleibende Entscheidung für ein Porträt. In dieser Unentschlossenheit liegt vielleicht die treffendste Darstellung ihrer selbst: ein Bild, das sich weigert, gemalt zu werden.

Diese Kolumne habe ich zuerst als Hauptstadt-Redakteur für die agrarzeitung 32.2024 verfasst.