Um 11:07 Uhr fiel der Satz, der in die Geschichte eingehen wird: „Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit nicht erreicht.“ Mit diesen Worten konstatierte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) das beispiellose Scheitern eines Kanzlerkandidaten im ersten Wahlgang.
Merz steht nun entblößt da – ein Parteivorsitzender ohne Amt und ohne Macht. Erst gestern übergab er den Fraktionsvorsitz an den machtbewussten Jens Spahn (CDU), ein Schachzug, der sich als fatale Fehlkalkulation erwiesen hat. Das Bild des gescheiterten Aspiranten entbehrt nicht einer bitteren historischen Ironie. In den intrikaten Machtverhältnissen der Unionsfraktion hat sich Merz verzockt. Sein Kulturkampf ist in seiner Nicht-Wahl am heutigen Vormittag kulminiert.
Die illustre Zeugenschaft – Merkel beobachtet das Debakel
Auf den Tribünen des Reichstags, wo sich die politische Elite unter strengster Selektion – ein Journalist pro Medienhaus – versammelt hatte, saß ausgerechnet jene Frau, die vor zwei Jahrzehnten Merz‘ politischen Aufstieg jäh beendete: Altkanzlerin Angela Merkel (CDU), die dem Ereignis von den Sedilien des Plenarsaals beiwohnte. Neben ihr der Doyen des diplomatischen Korps, Erzbischof Nikola Eterović, Vertreter des vakanten Heiligen Stuhls. Eine illustrere Zeugenschaft für dieses Debakel hätte sich nicht finden können.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 310 Ja-Stimmen bei 307 Nein-Stimmen – sechs Stimmen fehlten zur Kanzlermehrheit. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD verfügt eigentlich über 328 Sitze. Ein arithmetisches Rätsel, das auf interne Verwerfungen hindeutet.
Der ewige Verlierer – Merz‘ Niederlagenserie
Es ist ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Noch nie scheiterte ein Kanzlerkandidat im ersten Wahlgang. Für Merz ist es die Fortsetzung einer Kette von Niederlagen – erst gegen Kramp-Karrenbauer, dann gegen Laschet, nun gegen die eigenen Reihen.
Vor dem Hintergrund der Wahl vom 23. Februar 2025, aus der die Union als stärkste Kraft hervorging, wiegt das Scheitern besonders schwer. Merz‘ politisches Tabu-Spiel mit der AfD – gemeinsame Gesetzesbeschlüsse und ein umstrittenes Sonderschulenaufnahmeprogramm – haben von der politischen Norm deviant gehandelt und weder ihm noch seiner Partei genützt.
Rettungsversuche – Koalitionspartner unter Druck
Lars Klingbeil (SPD), der Vize-Kanzler und Finanzminister werden will, erklärte inzwischen, Union, SPD, Grüne und Linke hätten sich geeinigt, einen zweiten Wahlgang gegen 15:15 Uhr zu ermöglichen. Er zeigte sich „zuversichtlich“, dass Merz nun doch noch zum Kanzler gewählt werden könne, um „ordentliche Strukturen zu schaffen“.
Harte Worte fand auch CDU-Fraktionsvorsitzender Jens Spahn: „Ich erwarte, dass sich alle der Verantwortung bewusst sind“ und meinte die Abgeordneten von SPD und Union.
Olaf Scholz (SPD) wartet wohl noch in seinem leeren Kanzleramt in der Willy-Brandt-Straße – Scholz bekam gestern bereits seinen großen Zapfenstreich in Berlin. Um 14:14 Uhr verschickte das Presseamt der Bundesregierung einen technischen Hinweis, dass der „Bildtermin zur Amtsübergabe von Bundeskanzler Scholz an den neuen Bundeskanzler Merz (des.)“ auf unbestimmte Zeit verschoben ist.
Die Frage bleibt: Ist ein Mann, der dreimal an der Kanzlerkandidatur scheiterte, einmal an Merkel und nun im Bundestag, der richtige Steuermann für Deutschland in stürmischen Zeiten?
Die Geschichte schreibt manchmal Tragödien – und manchmal wiederholt sie sich als Farce.