Debatte um Triggerpunkte

Linkspartei tanzt auf bröselndem Fundament

Linkspartei tanzt auf bröselndem Fundament

Harald Wolf feiert den Bundestagswahlkampf der Linken als geschickten „Tanz auf Triggerpunkten“. Doch seine Erfolgsdiagnose übersieht die strukturelle Erosion der Partei in Ostdeutschland. Während Wolf taktische Manöver bejubelt, erobert die AfD einen Wahlkreis nach dem anderen in den einstigen Stammgebieten der Linken. Eine Analyse der Entfremdung.

Der Beitrag „Auf Triggerpunkten tanzen“, der in der Ausgabe 7.2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik erschienen ist, feiert der ehemalige Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf die Linkspartei für ihren vermeintlich so geschickten Bundestagswahlkampf 2025. Während andere Parteien ängstlich alle Triggerpunkte vermieden hätten, habe seine Partei „fröhlich auf den Triggerpunkten einen Stepptanz vollführt“ und sei damit erfolgreich gewesen. Eine zumindest bemerkenswerte Selbstgewissheit für jemanden, dessen Partei gerade dabei zusieht, wie ihr in Ostdeutschland das Fundament unter den Füßen wegbricht.

Gewiss, die Linke hat den Wiedereinzug in den Bundestag geschafft und kann auf einen Mitgliederzuwachs verweisen. Zwei Drittel der Mitglieder seien seit 2021 eingetreten, schreibt Wolf, das komme einer „Neugründung von unten nahe“. Allerdings ist diese Beobachtung betriebsblind. Sie übersieht, dass dort, wo die Partei einst ihre stärksten Wurzeln hatte, längst andere das Sagen haben. Und sie ignoriert, dass die neue Galionsfigur dieser vermeintlich ostdeutschen Erneuerung – Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek – bis 2023 Landesvorsitzende der Linken in Niedersachsen war. Auch hier stimmt der Mythos der ostdeutschen Linken nicht so richtig.

Verschwinden der Stammgebiete

In Marzahn-Hellersdorf, jenem Berliner Bezirk, den PDS und später die Linke jahrzehntelang mit haushohen Mehrheiten direkt gewonnen hatten, steht heute die AfD als Sieger da. In Lichtenberg, wo Gesine Lötzsch einst unangefochten herrschte, trennen die Linke mit 23,5 Prozent nur noch anderthalb Prozentpunkte von der AfD mit 22,4 Prozent. Von den ostdeutschen Flächenwahlkreisen konnte die Linke gerade noch drei halten – Leipzig mit Sören Pellmann, Erfurt mit Bodo Ramelow und Potsdam-Mittelmark, das Olaf Scholz gewann. Drei Wahlkreise in einem Landstrich, der einst als die Heimat der Linken galt.

Wolf registriert diese Erosion durchaus, doch seine Antwort darauf ist bezeichnend oberflächlich. Die Triggerpunkt-Strategie habe funktioniert, weil die Partei endlich wieder mit einer Stimme gesprochen habe. Mit Forderungen nach einem Mietendeckel und der Senkung von Lebensmittelpreisen habe sie die soziale Frage alltagsnah thematisiert. Als dann CDU, CSU, FDP und BSW gemeinsam mit der AfD für eine Verschärfung der Migrationspolitik stimmten, habe die Linke den Kampf um den Triggerpunkt Migration, doch das tun die Union und die AfD auch, die aufgenommen und sei zur „einzigen relevanten politischen Partei“ geworden, die sich gegen diesen Rechtsruck wandte.

Das klingt nach einer kohärenten Strategie, ist aber in Wahrheit ein aus dem amerikanischen Hochschulsystem kopierter Schreihalsaktivismus. Die Linkspartei empört sich gern und lauthals, zeigt aber in der Konsequenz keine Lösungen für die Menschen und deren Probleme auf. Sie spricht zwar das Großstadtproblem der zu hohen Mietkosten an, aber ausgerechnet in Berlin hat der Senat unter Gysi den Verkauf der städtischen Wohnungen zu Spottpreisen Anfang der 2000er-Jahre mitgetragen. Die Stadt Leipzig wurde damals sogar gefeiert für den Verkauf all ihrer Sozialwohnungen, um sich zu entschulden. Man hatte die Wasserwerke verkauft, man hatte 1997 die Bewag, das Berliner Energieversorgungsunternehmen, privatisiert – der Erlös betrug rund 2,9 Milliarden D-Mark, ging an ein Konsortium aus Veba, Viag und Southern Company, später an den schwedischen Vattenfall-Konzern.

Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen

Was Wolf in seiner Analyse völlig übersieht, ist die spezifische Mentalität jener Menschen, die seine Partei verloren hat. Es waren nicht die Ärmsten der Armen, die zur AfD wechselten, sondern Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Angestellte in Bundesministerien, denen es eigentlich sehr gut geht, mittlere Positionen in Unternehmen, selbstständige Handwerker, Kleinbürger – und ja, auch aussortierte Dauerarbeitslose. Sie alle verband eine Erfahrung, die Wolf nicht zu verstehen scheint.

diese Menschen wuchsen in einer intrikaten Gesellschaft auf, die bei aller berechtigten Kritik an der DDR eine bestimmte Form der Geborgenheit bot. Man hatte sich eingerichtet im klassischen Rollenbild, mit Kindern und relativer Sorglosigkeit. Dann kamen die Zeiten, in denen Deutschland als „kranker Mann Europas“ bezeichnet wurde, die Agenda 2010 fegte jedes Gefühl von Sicherheit weg und begehrenswerte Wohnlagen wurden zu Abstiegsvierteln. Trotzdem hatte man sich im Kleingartenverein, der als Kleinod der Geselligkeit diente, abends zu Bier und Grillgut an der Hollywoodschaukel getroffen.

Es war die Zeit, als der Hausmeister zum Facility Manager wurde, die Bundespost zur börsennotierten Telekom AG und das Highspeed-Internet mit Chats und E-Mails die Telefonleitung mit Anrufbeantworterkassetten ablöste. Eine Welt im Umbruch, in der das Bedürfnis nach geordneten Verhältnissen und etablierten Traditionen wuchs. Diese Sehnsucht war weder DDR-Erbe noch Reaktion auf die Wende – sie war einfach da. Die geborgene Ruhe in einer Welt, die sich zu schnell zu drehen begann.

Weder die Linke als „unsere Ostpartei“ – wie es die Erwachsenen in meinem Umfeld immer sagten – noch die CDU mit ihren westdeutschen Normalitätsverheißungen konnten diese Sehnsucht langfristig stillen. Die CDU hatte anfangs durchaus große Erfolge im Osten errungen, sogar eine aus dem Osten schaffte es ins Kanzleramt. Doch die CDU konnte die Sehnsucht nach dem Konservativen im sozialen Gefüge nicht langfristig erfüllen und enttäuschte zeitgleich mit der Linken.

Erfahrung der Entwertung

Um zu verstehen, was in Ostdeutschland geschah, muss man die konkreten Biografien betrachten. Meine Großeltern etwa hatten in einem Staat, den manche als System bezeichneten und der nun quasi als wertlos galt, eine gewisse Position inne – beide hatten ein Studium nach nachgeholtem Abitur absolviert, man kann es durchaus als Mittelstand bezeichnen. Dann waren sie plötzlich in diesem schwierigen und ablehnenden Umfeld, verloren ihre Arbeit und damit die gesellschaftliche Stellung. Man muss sich das so vorstellen, als wenn der Geschäftsführer eines größeren mittelständischen Unternehmens mit mehreren Dutzend Millionen Umsatz plötzlich auf die Straße gesetzt wird – nur dass nicht mal die schicke Villa am Stadtrand und das große Auto bleiben.

Meine Mutter war Datentypistin, heute würde man das wohl Data-Analyst nennen. Ich wuchs in den 1990er Jahren am Stadtrand im Osten von Berlin auf, dort wo man noch Polyestersportanzüge trug. Der Berufsabschluss meiner Mutter wurde in der BRD nicht anerkannt, also machte sie noch mal ein Grundstudium in Psychologie, um dann am Ende als Sachbearbeiterin in der Rentenversicherung zu arbeiten, ohne Aussicht auf eine Führungsposition. Eine Kollegin nahm einen längeren Arbeitsweg in Kauf, um nicht durch das ehemalige Ost-Berlin fahren zu müssen.

Stattdessen kamen mittelmäßig talentierte Westdeutsche – so die Wahrnehmung –, übernahmen mit ihrem Kapital die Unternehmen, besetzten die Richterpositionen und wurden zu empathielosen Führungspersönlichkeiten in Verwaltung und Firmen. Man fühlte sich übertölpelt und ausgetrickst. Keiner war da, um das zu heilen oder solidarisch beizustehen. Der Einzelne musste nun bestehen, obwohl man es in der DDR-Jugend anders beigebracht bekommen hatte – das allgegenwärtige Kollektiv, auf das man sich stützen sollte, war nicht mehr da oder so zerbrochen, dass es bröselte.

Aufmerksamkeitsökonomen der AfD

In diese Lücke stießen Anfang der 2010er-Jahre die Aufmerksamkeitsökonomen, die Heilsversprecher und Aufwiegler der AfD. Sie verstanden etwas, was Wolf bis heute nicht begreift. Die Menschen im Osten wollten zunächst das Gleichbleibende. Als sie das nicht bekommen konnten und das Versagen der alten Linken wie das Nichtliefern der neuen CDU bemerkten, wollten sie nicht mehr, dass es besser wird. Sie wollten einfach reaktionär anders.

Es war die Erfahrung von 1989, die sie dazu befähigte. Die Selbstwirksamkeitserfahrung, dass man einen Wirbel losbrechen lassen kann, wenn die etablierte Ordnung versagt. Die AfD griff genau das auf, unterspülte das bröselige Fundament der etablierten Parteien und drückte alles weg. Während Wolf heute noch von antifaschistischer Klassenpolitik träumt haben diese Aufwiegler längst die Deutungshoheit über das Schicksalskollektiv im Osten übernommen. Dass es gerade frustrierte Mittelschichtler waren, die zur AfD gingen, macht seine Klassenpolitikrhetorik nur noch hohler.

Demografischer Kollaps

Hinzu kommt ein Aspekt, den Wolfs Berliner Perspektive vollständig ausblendet. Die Kinder derjenigen, die in diesem gottlos-atheistischen Landstrich in der Mitte Europas zurückgeblieben sind, gingen zu großen Teilen weg und gründeten ihre Familien im Westen. Es fehlt eine ganze Generation. Im Osten Deutschlands ist man überaltert, es fehlen die neuen Ideen, das Streben nach Neuem und nach Verbesserung der Lebensverhältnisse.

Diese demografische Leere ist schwer zu heilen. Die Leute sind weg und haben sich woanders ein Leben aufgebaut. Diese Gehirne kommen nicht mehr zurück, zumindest nicht mit Produktivkraft. Um die Lausitz als Braunkohleabbaugebiet wird so sehr gekämpft, um die Region nicht weiter aussterben zu lassen, doch das ist eigentlich müßig. Man versucht dort eine Strategie wie in den Steinkohleregionen Nordrhein-Westfalens, aber das wird nicht klappen, weil die Region schon so wenig Kohäsionskraft hat, dass es nur ein Verzögern ist.

Die AfD und ihre Vorfeldorganisationen haben das begriffen. Sie siedeln sich in den dünn besiedelten Weiten an und versuchen eine Infrastruktur zu schaffen – eine der Erregung und des Ressentiments. Während Wolf von einem öffentlichen, kostenlosen Verkehrsangebot träumt, von der Vergesellschaftung des Wohnungssektors und gebührenfreien Kitas, bewirtschaften sie erfolgreich die Aufmerksamkeitsökonomie.

Intellektuelles Lagerdenken

Wolf spricht in seinem Text auch von der Notwendigkeit, das „Lagerdenken“ zu überwinden – ein Begriff, den er als „Campismus“ bezeichnet. Das ist eines dieser schrecklichen Worte, mit denen man sich die Welt intellektualisiert, eine Wortbildung aus dem englischen Camp, die im Deutschen schlicht Lagerdenken bedeutet. Man kann Dinge kritisieren, obschon man selbst darin steckt. Mir war es eigentlich immer fremd, in Ost- und Westkategorien zu denken, doch irgendwie scheint da etwas dran zu sein. Ich denke allerdings, dass das Ost-West-Schema nicht so schlagend wäre, wenn es die AfD und den einhergehenden Helikopterjournalismus dazu nicht gäbe. Dann wäre es wohl ein regionaler Unterschied wie zwischen Bayern – die sogar eine eigene Regionalpartei haben – und Nordfriesland.

Gleichzeitig diskutiert Wolf ernsthaft über „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ der Bundeswehr, als müsse die Linke konkretisieren, was das heute bedeutet. Während im Osten die AfD Wahlkreis um Wahlkreis gewinnt, philosophiert man über Rüstungskontrolle und Abrüstung. Beide Parteien – AfD wie Linke – wissen, dass sie zu extreme Positionen vertreten, um koalitionsfähig und damit regierungsfähig zu sein. Beide wurden oder werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Doch nur eine versteht es, daraus politisches Kapital zu schlagen.

Tanz ins Leere

Wolfs Infrastruktursozialismus mag auf dem Reißbrett eine gute Idee sein. Doch diese Konzepte tragen nicht mehr, da man nichts mehr hat, was man wirklich verbinden könnte. Der Tanz auf den Triggerpunkten funktioniert vielleicht noch in den wenigen verbliebenen Bastionen – dort, wo Bodo Ramelow in Erfurt gewinnt oder Gregor Gysi mit seiner besonderen Ausstrahlung in Treptow-Köpenick die Leute noch zu verstehen vorgibt. Überall anders ist er ein Tanz ins Leere.

Harald Wolf feiert taktische Manöver, während um ihn herum die Substanz wegbricht. Die vermeintliche „Neugründung von unten“ kaschiert nur notdürftig, dass der Osten für die Linke weitgehend verloren ist. Nicht weil die Menschen dort rechtsextrem geworden wären, sondern weil eine andere Partei ihre Sehnsüchte besser zu bewirtschaften versteht. Die Linke empört sich authentisch, wie Wolf schreibt, aber authentische Empörung funktioniert nicht bei Menschen, die sich selbst betrogen fühlen.

Am Ende bleibt eine Partei, die ihre eigene Entfremdung von jenen nicht bemerkt, für die sie einst zu sprechen vorgab. Während Wolf noch von antifaschistischer Klassenpolitik träumt, haben andere längst begriffen, wie man das Schicksalskollektiv im Osten anspricht – nicht mit Infrastruktursozialismus, sondern mit der Verheißung, dass man wieder einen Wirbel losbrechen lassen kann.

Dieser Text wurde am 29. Juli 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.