Liliom: Ein Gauner im Fegefeuer

Liliom: Ein Gauner im Fegefeuer

Ferenc Molnárs „Liliom“ am Berliner Ensemble berührt das Herz und wirft zugleich gewichtige Fragen auf.

Manchmal sitzt man im Theater und denkt: Das kann doch nicht wahr sein. Ein Karussell-Ausrufer aus Budapest, geboren Ende der 1880er, gestorben 1909, rührt einen zu Tränen. Liliom heißt er, ein Gauner mit großen Augen und noch größeren Träumen. Christina Tscharyiskis Inszenierung am Berliner Ensemble macht aus Ferenc Molnárs Vorstadtlegende einen Abend, der unter die Haut geht.

Dabei fängt alles harmlos an. Rosa Licht taucht das Neue Haus am Schiffbauerdamm in Zuckerwatte-Atmosphäre, während Kyrre Kvam live musiziert und gleichzeitig eine rätselhafte Figur namens Linzmann spielt. Eine ausführlichere Betrachtung der metaphysischen Dimensionen dieses Stücks findet sich an anderer Stelle – doch schon in den ersten Minuten wird klar: Hier geht es um mehr als Rummelplatz-Romantik.

Rosa Träume, harte Realität

Liliom verliert seinen Job. Für ein Mädchen namens Julie, 18 Jahre alt, schwanger nach zwei Monaten Liebe. Jannik Mühlenweg spielt ihn als zerrissenen Mann zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, Lili Epply verkörpert eine Julie, die mehr versteht als sie sagt.

Die Zahl sechzehn zieht sich durchs Stück.

Der rote Faden: Ein Habenichts mit seesackgroßer Tasche voller Nichts will für sein ungeborenes Kind sorgen. Endre Závoczki heißt er mit bürgerlichem Namen, „mütterlicherseits“, wie er betont. Ein Bastard also, aufgewachsen ohne jemanden, der ihm zeigt, wie man anständig lebt. Dies ist ein Detail, welches so nicht in der 1970er-Jahre-Fassung bekannt ist, sich in der Betrachtung des Habenichts im Theaterstoff aber zu einem großen Ding herausstellt.

Sechzehntausend Kronen und ein Selbstmördergericht

Was macht so einer? Er lässt sich von Stutzer überreden. Der hatte längst geplant, den Kassierer Linzmann zu überfallen – jenen Juden, der wöchentlich die Löhne der nahen Lederfabrik an die Arbeiter auszahlt. 16.000 Kronen führt er bei sich, hatte Stutzer ausgekundschaftet. Eine Summe, die sechs Monate vergraben werden muss, dann weitere sechs Monate Wartezeit. Das Kind aber kommt früher.

Liliom lässt sich vom Stutzer überreden – Fassung am Berliner Ensemble, uraufgeführt 2024 in Berlin
Liliom lässt sich vom Stutzer überreden – Fassung am Berliner Ensemble, uraufgeführt 2024 in Berlin © BE / Jörg Brüggemann 2024

Doch der Raub geht schief. Linzmann ist erfahren, wo Liliom zögert – er bietet dem Küchenmesser, das Liliom zögernd mitgebracht hatte, eine geladene Pistole auf. Zudem lief er mit leeren Taschen nach Hause, hatte das Geld bereits ausgezahlt. Liliom ersticht sich, um der Schmach zu entgehen.

Und hier wird Molnárs katholische Seele sichtbar: Kein höllisches Tribunal erwartet den Selbstmörder, sondern ein »Selbstmördergericht« voller Verständnis. 16 Jahre Fegefeuer – jener Läuterungsort zwischen Erde und Himmel – als Chance, nicht als Strafe. Die Zahl 16 durchzieht das Stück: Luisa wird 16 bei Lilioms Rückkehr, selbst die Straßenbahnfahrt kostet acht Kreuzer hin und acht zurück.

Liebe stärker als der Tod

Hans Fründts Lichtkonzept macht den Übergang sichtbar: Rosa weicht grüner Hoffnung, wenn Liliom nach 16 Jahren zu seiner Tochter zurückkehrt. Julie hat ihn verklärt, Louisa Beck spielt die Tochter als selbstbewusstes Mädchen, das vom Vater nur Gutes gehört hat.

Dann geschieht das Wunder: Liliom schlägt seine Tochter – und sie spürt keinen Schmerz. „Kann es sein, dass jemand einen so heftig schlägt und es einem nicht weh tut?“, fragt sie ihre Mutter. „Ja, mein Kind. Das ist mir schon einmal passiert.“

Liebe wird zur metaphysischen Kraft, die Gewalt in Zärtlichkeit verwandelt.

Österreichische Seelen im märkischen Sand

Terézia Moras Neuübersetzung holt das Stück ins zeitgemäße Hochdeutsche zurück. „Ficsúr“ wird wieder zu „Stutzer“ – Oliver Kraushaar verkörpert diese Figur mit gefährlicher Eleganz. Hugo erhält seinen Originalnamen zurück, weil, so die Übersetzerin: „Ein wunderbarer Name für eine Figur, die einen Füllfederhalter ›Selbstfüllfeder‹ nennt.“

Joyce Sanhá und Adrian Grünewald zeigen als Marie und Hugo den Gegenentwurf: Wie es geht, wenn man sich zusammenreißt, spießig-glücklich wird, fünf Kinder bekommt.

Dass in Zeiten von Senator Chiallos Sparmaßnahmen noch solche Produktionen entstehen, grenzt selbst an ein Wunder. 110 pausenlose Minuten, die beweisen: Theater kann berühren, wenn es Ernst macht mit den großen Fragen nach Schuld und Vergebung.

Man geht nach Hause und denkt: Vielleicht gibt es sie doch, die zweite Chance. Für Gauner, für Habenichtse. Für uns alle.

Dieser Text wurde am 28. Mai 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.