Mikrokosmos Prenzlauer Berg

Kulturkapital und Ohrenjucken

Illustration Junge Frau im Publikum einer Lesebühne in Berlin Prenzlauer Berg

Eine Kulturveranstaltung in Berlin-Prenzlauer Berg bietet überraschende Einblicke zu echten Menschen. Bei der Reformbühne Heim und Welt treffen sich etwa 200 Zuschauer zu einer Lesung mit Musik. Die Atmosphäre ist ausgelassen und eine junge Frau erregt mittels menschlicher Alltagsgeste mein Interesse.

An einem Sommerabend, der Berlin in träge Hitze hüllt, finde ich mich auf dem wild bewachsenen Hof einer ehemaligen Tankstelle in Prenzlauer Berg wieder. Hier, unter einem weißen Zeltdach, das gnädig Schatten spendet, hat sich die Reformbühne Heim und Welt versammelt – ein Treffpunkt für Berlins Kulturbeflissene. Herrlich!

Etwa 200 Zuschauer haben sich eingefunden, ihre Gesichter ein Mosaik aus Erwartung und leichtem Schwitzen. Die Atmosphäre ist eine Mischung aus Freilufttheater und intellektuellem Salon, aufgelockert durch die schmutzigen Klänge der “bolschewistischen Kurkapelle schwarz rot” – ein Name, der nach ironischer Selbstbeweihräucherung klingt und die Erwartungen wundervoll Erfüllt.

Abiturientin in stiller Rebellion

Inmitten dieses urbanen Biotops fällt mein Blick auf eine kleine Gruppe, offensichtlich eine Familie, die so viel Kulturkapital ausstrahlt, dass man damit problemlos eine mittelgroße Galerie eröffnen könnte. Sie sehen aus, als hätten sie den Prenzlauer Berg nicht etwa gentrifiziert, sondern vor 20 Jahren eigenhändig aus Lehm geformt.

Besonders faszinierend ist die Tochter, schätzungsweise knapp unter 20, ein Paradebeispiel der Spezies “Digital Native im analogen Exil”. Mit großer Gelassenheit hält sie ihr iPhone in der Hand – ungenutzt, wohlgemerkt. In Zeiten, in denen selbst Kleinkinder ihre Aufmerksamkeitsspanne in Bildschirmzeit messen, ist das nichts weniger als ein Akt der stillen Rebellion.

Ihr Outfit ist ein Meisterwerk der kalkulierten Nonchalance: lässige Jacke, helles Oberteil, filigrane Kette, kurze Hose, weiße Socken und moderne Turnschuhe. Die Haare sind wohlgepflegt, sie liegen nonchalant auf dem Kopf und die Spitzen berühren sanft den Kragen. Der Haarschnitt ist leicht herausgewachsen – vermutlich ein Statement gegen die Vergänglichkeit der Mode.

Ihr Gesichtsausdruck wechselt zwischen einer Philosophin beim Nachdenken und einem Teenager, der gerade erfährt, dass das 5G-Netz ausfällt – eine beeindruckende emotionale Bandbreite. Die Mutter, in ihrer Rolle als kulturelle Simultanübersetzerin, tippt sie gelegentlich an, um Kommentare abzugeben. Die Tochter reagiert darauf mit der Begeisterung eines Pesketariers an der Fleischtheke.

Drängende Menschliche Bedürfnisse

Doch dann, nach der Pause und einem weiteren schmissigen Lied der Kurkapelle, offenbart sich das wahre Drama des Abends. Die menschlichen Bedürfnisse melden sich – in Form eines juckenden Ohrs. Was folgt, ist eine Performance, die selbst renommierte Konzeptkünstler vor Neid erblassen lassen würde.

Mit der Präzision eines Neurochirurgen und der Langsamkeit einer Zeitlupenaufnahme führt unsere Heldin ihren Finger zum Ohr. Es folgt ein kleines Rütteln, das an eine sanfte Erdbebenübung erinnert. Die Hand gleitet dann in einer Bewegung, die Michelangelo Tränen in die Augen getrieben hätte, am Unterkiefer entlang zum Kinn.

Aber warten Sie, es wird noch besser. In einer Wendung, die selbst Hitchcock nicht hätte vorhersehen können, wandert die Hand zur Nase, dann zu den Lippen. Es ist, als würde sie eine geheime Botschaft entschlüsseln, die ihr Ohrenschmalz ihr zugeflüstert hat.

Ich bin fasziniert und leicht verstört zugleich. Ist dies eine avantgardistische Interpretation von Jogi Löws berühmter Spielfeldrand-Choreographie? Eine Kritik an der Überintellektualisierung der Kunst? Oder einfach nur ein juckendes Ohr? Bevor ich zu einer Antwort kommen kann, wiederholt sich das Spektakel mit der anderen Hand. Natürlich, denke ich mir, wenn das eine Ohr juckt, juckt das andere auch. Es ist die perfekte Symmetrie des Unbehagens.

Wahrer proletarischer Prunk

In diesem Moment wird mir klar: Das hier, diese kleine, alltägliche Szene, ist die wahre Kunst des Abends. Ungefiltert, ungeschliffen, unglaublich menschlich. Vielleicht, so denke ich, während um mich herum die Vorstellung weitergeht, ist das der eigentliche Geist von Prenzlauer Berg. Nicht die hippe Fassade, nicht das zur Schau gestellte Kulturkapital, sondern diese kleinen, unvermittelten Momente der Menschlichkeit.

Und während die bolschewistische Kurkapelle schwarz rot den Hit “Du hast den Farbfilm vergessen” schmissig anstimmt, lächle ich in mich hinein. Denn in diesem Moment fühle ich mich endlich wirklich angekommen – nicht als Beobachter, sondern als Teil dieses wunderbaren, skurrilen, zutiefst menschlichen Moments in einer Sommernacht in Prenzlauer Berg.