Ein kleiner Fisch sollte es werden, ein Elefantengeschäft wurde daraus und am Ende steht die totale Transformation: Brechts mechanistische Verwandlung des Hafenarbeiters Galy Gay zum Soldaten der Kolonialmacht offenbart die Grausamkeit standardisierter Massenproduktion von Identitäten. Eine Analyse des fordistischen Menschen im militärischen Gewand.
Gesellschaftliche Atomisierung und der Kult des Individuellen prägen unsere Gegenwart. Doch Bertolt Brechts »Mann ist Mann« hält uns auch fast 100 Jahre nach seiner Erstaufführung einen Spiegel vor, der die Austauschbarkeit unserer Identitäten reflektiert. Das Stück, oberflächlich die Geschichte von Galy Gay, der morgens einen kleinen Fisch kaufen will, mittags einen großen Elefanten hat und abends Angehöriger der Streitkräfte ist, bietet ein abstraktes Abbild unserer Formbarkeit durch gesellschaftliche Kräfte.
Die Dialektik von Individuum und Kollektiv im Prisma der Austauschbarkeit
Brechts Protagonist Galy Gay, brillant verkörpert von einer energischen Nele Trebs als verängstigten, bestimmten und zeitweise folgsamen Charakter, demonstriert paradigmatisch die Formbarkeit des Individuums durch kollektive Kräfte. Eine simple Blechmarke mit einer Nummer darauf verwandelt einen Packer in einen Soldaten – eine Metamorphose, die uns an die Macht offizieller Dokumente in unserer eigenen Realität erinnert, wo ein Pass zum Ausdruck der Individualität eines Menschen wird.
Der Fordismus und die Mechanisierung der Menschlichkeit
Die Kritik am Fordismus, jenem System der standardisierten Massenproduktion, das den Menschen zur austauschbaren Komponente degradiert, manifestiert sich in Brechts Darstellung der Armee. „Die Zeit der Unordnung ist vorbei, es ist Krieg!“ – dieser Ausruf im Stück markiert den Übergang von individueller Freiheit zu militärischer Gleichschaltung. Der Maschinengewehr-Trupp, zur Entstehungszeit des Stücks der Inbegriff mechanisierter Unmenschlichkeit, verkörpert gleichzeitig die ultimative Austauschbarkeit des Individuums. Diese Dualität von Mechanisierung und Entmenschlichung hallt in unserer postindustriellen Gesellschaft nach, wo Algorithmen und maschinelles Lernen zunehmend menschliche Funktionen übernehmen.
Wie am Fließband werden hier Identitäten demontiert und neu zusammengesetzt. Die militärische Maschinerie funktioniert dabei nach denselben Prinzipien wie die Fabrik: Standardisierung, Effizienz, Austauschbarkeit der Einzelteile. Ein defektes Bauteil – der verschwundene Soldat – wird einfach durch ein neues – Galy Gay – ersetzt. Die Ummontierung erfolgt mit der gleichen technischen Präzision, mit der in Fords Fabriken Autos zusammengebaut werden. Diese Dualität von Mechanisierung und Entmenschlichung hallt in unserer postindustriellen Gesellschaft nach, wo die Logik der Austauschbarkeit längst die Fabrikhallen verlassen hat und alle Lebensbereiche durchdringt.
Das Paradoxon der Identität
Galy Gays surreale Situation, in der er seine eigene Totenrede hält und nicht mehr weiß, ob er nun im Sarg liegt, der ihm eine „Berechtigung im Massengrab“ gibt, oder ob er ein freundlicher Ehemann ist, dessen Frau mit dem Fischwasser wartet, illustriert das Paradoxon der Identität in einer Welt, die von Kollektiven geformt wird. Diese Szene, gepaart mit der herausragenden Darstellung von der entzückenden Joana Damberg als Soldat Uria Shelly, unterstreicht die Fragilität und Fluidität persönlicher Identität.
Klamauk als Vehikel der Kritik
Typisch für Brecht nutzt das Stück Elemente des Klamauks, um ein ernstes Thema zu vermitteln. Das Beefsteak und die komödiantischen Elemente erlauben es dem Publikum, einen scheinbar unbedarften Abend zu verleben, während sie gleichzeitig mit tiefgreifenden Fragen zur menschlichen Existenz konfrontiert werden. Diese Strategie erinnert an Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden, der ebenfalls die Austauschbarkeit des Menschen in der modernen Gesellschaft thematisiert.
Das Kollektiv neu denken
In einer Zeit, in der der Individualismus zur Ideologie erhoben wurde, fordert uns Mann ist Mann heraus, das Kollektiv neu zu denken. Nicht als Antipode zur individuellen Freiheit, sondern als deren Voraussetzung und Garant. Das Stück erinnert uns daran, dass wir als Menschen nur in der Gemeinschaft wirklich zu uns selbst finden können – eine Erkenntnis, die in unserer fragmentierten Gegenwart aktueller ist denn je.
Während der Zug der Soldaten in Richtung Grenze rollt, stellt sich unweigerlich die Frage: Welche Rolle kann der Mensch in einer rationalisierten und von maschinellem Lernen überwältigten Umwelt spielen? Brechts zeitloses Werk mahnt uns, wachsam zu bleiben gegenüber den Kräften, die unsere Identitäten formen und verformen, sei es durch kollektive Strukturen oder technologischen Fortschritt.
In einer Welt, in der Identitäten so flüssig sind wie das Fischwasser, das Galy Gays Frau bereithält, bleibt Mann ist Mann ein kraftvoller Aufruf, die Dialektik zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen persönlicher Autonomie und gesellschaftlicher Einbindung, stets neu zu verhandeln.