Dreigroschenoper und das Leid

Ökonomie des Mitgefühls: Brechts Bettler-König Peachum über Berlins Straßen

Ökonomie des Mitgefühls: Brechts Bettler-König Peachum über Berlins Straßen

Mitleid nutzt sich ab – das weiß schon Jonathan Jeremiah Peachum, Bettler-Großunternehmer in Bertolt Brechts Dreigroschenoper. Doch es gibt Leid, das sich nicht abnutzen lässt: transformatives Leid, das einen Menschen dauerhaft verändert. Eine Theaterbetrachtung über Barrie Koskys Inszenierung des Brecht-Klassikers am Berliner Ensemble – und die einprägsame Spielweise Tilo Nests, der Peachums kalte Ökonomie des Elends meisterhaft verkörpert.

Vor einigen Tagen saß ich wieder im großen Haus des Berliner Ensembles am Schiffbauerdamm. Ich hatte Barrie Koskys Inszenierung der Dreigroschenoper bereits in der vergangenen Spielzeit gesehen, nun war die Besetzung in vielen Rollen gewechselt – Gabriel Schneider gibt den Mackie Messer, andere Partien sind neu besetzt. Doch Tilo Nest spielt weiterhin den Jonathan Jeremiah Peachum. Eigentlich hatte ich mir einen bestimmten Platz gekauft, um die Arbeit der Musiker zu beobachten, doch das Theater vollzieht seine Wirkung oft anders als geplant. Diesmal schob sich eine Szene in den Vordergrund, die ich längst zu kennen glaubte: Peachums Monolog über die Ökonomie des Mitleids. Peachum, der Großunternehmer im Bettlergeschäft von London.

Nest gibt dem Peachum eine einfühlsame Schroffheit. Im schwarzen Cordanzug – Dienstkleidung eines Großunternehmers im Bettlergeschäft – steht er vor dem Publikum, streckt den Arm bittend nach vorn, legt einen Dackelblick auf und spricht. Was folgt, ist eine betriebswirtschaftliche Analyse des Mitleids. Peachum erklärt, sein Geschäft sei schwierig, „denn mein Geschäft ist es, das menschliche Mitleid zu erwecken“. Es gebe wenige Dinge, die den Menschen erschütterten, „aber das Schlimme ist, dass sie, mehrmals angewendet, schon nicht mehr wirken.“ Dann der nachdrückliche Kern seiner Theorie: „Der Mensch hat die furchtbare Fähigkeit, sich gleichsam nach eigenem Belieben gefühllos zu machen. So kommt es zum Beispiel, dass ein Mann wohl in seinem Schrecken das erste Mal zehn Pennies zu geben bereit ist, aber das zweite Mal nur mehr fünf Pennies, und sieht er ihn das dritte Mal, übergibt er ihn kaltblütig der Polizei.“

Diese Stelle war mir natürlich bekannt. Nicht umsonst heißt es in der Kurt-Weill-Vertonung: „Bettler betteln, Huren huren“ – Alltag im Dreigroschen-Soho. Doch im Nachklang kreisten die Gedanken immer wieder um Peachums Businessplan, denn er beschreibt einen Mechanismus, der erschreckend vertraut wirkt.

Berliner Straßenbild: Von Großmünzen zu Kupfergeld

Nicht weit vom Berliner Ensemble lässt sich genau das in der Realität beobachten. Von den Medien „Bettlermafia“ genannte Banden machen Schlagzeilen. Einmal ließ sich beobachten, wie eine ganze Truppe mit einem Kleinbus von der Arbeitsverrichtung als Bettler abgeholt wurde. Tage später, beim Gang durch einen Boulevard in Friedrichshain, fiel ein anderer Bettler auf – wohl obdachlos, vermutlich echt. In der U-Bahn das gleiche Bild: Bemitleidenswerte Gestalten wechseln sich ab, streiten um die besten Plätze in der U8, immer wieder ausgemergelte Menschen, die um einen Groschen bitten.

Der Gewöhnungseffekt, den Peachum beschreibt und den Tilo Nest so einprägsam darstellt, lässt sich erkennen. Bei vielen – oft zugezogenen Stadtbewohnern – gibt es für den ersten Bettler noch eine Großmünze. Nach der nächsten Station wechseln die Bettler, und in den abgenutzten Pappbechern landen keine Großmünzen mehr, sondern Messinggeld. Ein Paar, scheinbar von der Armut in der Hauptstadt überwältigt, gab nur noch, was übrig war: Kupfergeld. Das ist keine besonders neue Beobachtung, aber es überrascht, wie aktuell die Erzählung des Peachum in der aktuellen Inszenierung von Barri Kosky als Bettler-Großunternehmer ist.

Peachum, der aus taktischen Gründen gerne behauptet, der ärmste Mann der Stadt zu sein, dürfte an seinen 1432 als Bettler kostümierten Angestellten ausreichend verdienen. Er erklärt, wie die Ausstattung und Garderobe aussehen müssen, dass es drei Kategorien der Zurschaustellung der Bedürftigkeit gebe. Seine Kunstbettler sind verkleidet entsprechend der Vorstellung, die sich ein wohlhabendes Publikum auf der Straße und im Theater davon macht, wie Bettler auszusehen haben. Das Elend wird zur Ware, die sich verbraucht – so wie die Soziologin Eva Illouz in einem Text zur Dreigroschenoper schreibt: „Ersetzbarkeit und Instrumentalisierung sind der Stoff, aus dem der Kapitalismus gemacht ist.“

Wenn Leid sich nicht abnutzt

Doch Peachums Kalkulation hat einen blinden Fleck. Sie rechnet mit Gewöhnung, mit der Abnutzung des Mitleids durch Wiederholung. Was sie übersieht: Es gibt Arten von Leid, die sich nicht abnutzen. Jeder Mensch leidet individuell, und jeder Vorgang des Leidens ist im Moment des Erlebens bedeutsam, kann grausam sein – selbst wenn man sich oberflächlich daran gewöhnt hat. Es gibt den Spruch, den Außenstehende gern distanziert äußern: In einem Jahr würde man darüber lachen können. Freilich gibt es solche Situationen. Doch es gibt auch jene Erfahrungen, über die man nicht lachen kann, die nicht im Nachhinein als „halb so wild“ erscheinen – Erfahrungen, die einen Menschen dauerhaft verändern, transformieren.

Das ist transformatives Leid – oder, wie der Soziologe Armin Nassehi es nennt: existenzielle Erschütterung. Erfahrungen, die das fundamentale Vertrauen in die Welt zerstören, Grundannahmen über Sicherheit, Gerechtigkeit oder Sinn unbrauchbar machen und einen Menschen zwingen, sich und die Welt neu zu ordnen. Wer risikobereit war, kann nach solchem Leiden als sorgenvoller, vorsichtiger Mensch hervorgehen. Die biografische Zäsur bleibt – auch wenn das Mitleid der anderen längst verbraucht ist.

Peachums Geschäftsmodell funktioniert, weil es mit der Ersetzbarkeit rechnet – ein Bettler gleicht dem anderen, das Mitleid wird zur knappen Ressource, die sich aufbraucht. Doch was bleibt, wenn man das Theater verlässt und auf die Straße tritt? Die Herausforderung liegt darin, eine Offenheit für die Welt zu bewahren, die nicht in Gewöhnung erstarrt.

Theater als Ort der Aufmerksamkeit

Das Theater kann dabei helfen – wenn man es lässt. Hochkultur vermag es, den Geist anzuregen, auch im goldbestückten großen Haus mit seinen Samtsitzen. Anders als im Film, wo der Kamerafokus die Aufmerksamkeit lenkt, vollzieht sich im Theater die Wahrnehmung live und eigensinnig. Das Erleben und die Offenheit erfordern jedoch die Aufmerksamkeit des Rezipienten, um nicht nur zu schauen, sondern zu sehen. Dann kann eine scheinbar bekannte Szene plötzlich neu wirken, kann sich ein Monolog über Bettler ins Gedächtnis schieben und dort arbeiten.

Die Dreigroschenoper tut das seit fast einem Jahrhundert. Sie stellt die Frage: Wie lange noch, bis wir selbst zu den Gewöhnten gehören, die beim dritten Mal kaltblütig zur Polizei greifen?

Dieser Text wurde am 6. November 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.