Suse Wächters Puppeninszenierung feierte bereits 2022 im Berliner Ensemble Premiere – das sich trug sie sogar nach China. Die Regisseurin präsentiert ein innovatives Puppentheater, das Brechts Geist und historische Figuren zum Leben erweckt. Auf der Vorderbühne verschmelzen etwa 100 Puppen Vergangenheit und Gegenwart, sprechen Kenner wie Neulinge an und unterstreichen Brechts anhaltende Relevanz.
Auf der Bühne des Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm erweckt Regisseurin Suse Wächter mit „Brechts Gespenster“ nicht nur den Geist des großen Dramatikers, sondern eine ganze Epoche zum Leben. Auf der vier Meter tiefen Vorderbühne – auf der Hinterbühne scheint dir Kulisse der von mir geliebten Dreigroschenoper hindurch – entfaltet sich ein faszinierendes Spektakel, das die Grenzen zwischen Puppenspiel und klassischem Theater verwässert lässt.
Das Bühnenbild, geschaffen von Konstanze Kümmel, vermittelt eine Probenraum- und Fundusatmosphäre. Alle Elemente stehen eng beieinander. Ein schwarzes Podest dient als Hauptspielfläche, gekrönt von einem etwa 2,50 Meter hohen schwarzen Metallgerüst, an dem der Puppenfundus angebracht ist und in dem etwa 80 Puppen verschiedener Größen hängen. Einige Töne erklingen von einem Xylophon und erinnern an die Moritat von Mackie Messer – eine subtile Hommage, die den Geist Brechts von Beginn an spürbar macht.
Puppenspieler
Was „Brechts Gespenster“ von konventionellem Puppentheater abhebt, ist die imposante Dualität der Darstellung. Die darbietenden Spieler, allen voran Suse Wächter und Hans-Jochen Menzel, führen ein eigenes Schauspiel auf, bei dem die Puppen als Erweiterung ihrer selbst fungieren. In schwarze Gewänder gehüllt, treten die Spieler zwar in den Schatten hinter dem Lichtkegel, der ihre Puppen illuminiert, doch ihre Ausdruckskraft bleibt selbst im Dunkel spürbar. Es ist, als würden die Puppen zu Masken werden, hinter denen sich ein zweites, subtileres Schauspiel verbirgt.
Bertolt Brecht, der Namensgeber und geistige Vater des Stücks, ist omnipräsent, auch wenn er als physische Puppe nur selten in Erscheinung tritt. Sein Geist durchdringt jede Szene, jede Melodie, jede kulturelle Referenz. Das Stück ist durchzogen von Anspielungen auf Brechts Werke, Filme und Theatertheorie. Die brechtsche Dialektik und das epische Theater finden in dieser Inszenierung eine moderne Interpretation. Brecht ist, wie treffend beobachtet, “anwesend abwesend” – ein Gespenst unter Gespenstern, das die Gegenwart ebenso beeinflusst wie die Vergangenheit.
Puppentheater ist unterschätzt!
Panoptikum historischer Figuren
Die Bühne wird bevölkert von einer beeindruckenden Anzahl historischer Persönlichkeiten – an die 100 Puppen sind versammelt, von denen viele zum Leben erweckt werden. Von Margaret Thatcher über Karl Marx bis hin zu Sigmund Freud und sogar Schrödingers Katze – jede Figur bringt ihre eigene Geschichte und Perspektive ein. Besonders bemerkenswert ist, wie diese historischen Gestalten in einen modernen Kontext gesetzt werden. Sie sprechen von ihrer Zeit, kommentieren aber gleichzeitig unsere Gegenwart.
Brechts Verfremdungseffekt in Aktion
Ein besonders eindrucksvoller Moment des Stücks demonstriert Brechts Verfremdungseffekt auf brillante Weise: Als sich die Figur Fritz Dietz, die dem namenlosen Arbeiter aus Brechts Film Kuhle Wampe einen Namen gibt, aus dem Fenster stürzt, durchzuckt ein Moment des Schreckens das Publikum. Doch getreu Brechts Theaterphilosophie geht die Handlung unbarmherzig weiter. Diese Szene zielt nicht auf bloßes Mitgefühl ab, sondern fordert das Publikum heraus, sich zu empören und über das Gesehene nachzudenken.
Surreale psychoanalytische Begegnungen
Die Inszenierung scheut sich nicht vor surrealen und humorvollen Momenten, denn die mystifizierte Psychoanalyse darf bei einem Stück über Gespenster natürlich nicht fehlen. In einer besonders bemerkenswerten Szene holt Suse Wächter Sigmund Freud aus derselben Kiste, in der zuvor Lenin aufgebahrt lag. Freud setzt dem Ganzen die Krone auf, indem er eine namenlose Schrödinger-Katze aus der Kiste zieht, um sie einer gemeinschaftlichen Therapie zu unterziehen. Diese Szene vereint auf geniale Weise historische Figuren, wissenschaftliche Konzepte und psychoanalytische Theorie.
Die Beleuchtung, entworfen von Steffen Heinke, erweist sich als ein Schlüsselelement der Inszenierung. Obwohl auf den ersten Blick einfach gehalten, unterstützt sie meisterhaft das Sehen und Schauen des Publikums. Gespenster schweben in schummrigem Licht am Publikum vorbei, während die Theatermacher im Scheinwerferlicht stehen. Die Musik, komponiert von Matthias Trippner und Martin Klingeberg, wird live auf der Bühne gespielt und trägt wesentlich zur dichten Atmosphäre des Stücks bei.
Publikumsresonanz und Zugänglichkeit
Trotz der intellektuellen Tiefe und der vielschichtigen Anspielungen gelingt es dem Stück, ein breites Publikum anzusprechen. Die Vorstellung war von Heiterkeit und Lachen geprägt, wobei verschiedene Zuschauergruppen an unterschiedlichen Stellen reagierten – ein Zeichen dafür, dass das Stück auf mehreren Ebenen funktioniert. Besonders beeindruckend ist die Tatsache, dass selbst theaterunerfahrene Zuschauer von der Aufführung begeistert waren.
Theatralisches Meisterwerk
„Brechts Gespenster” erweist sich als ein theatralisches Meisterwerk, das Puppenspiel, historische Reflexion und brechtsche Theatertheorie auf innovative Weise verbindet. Die Inszenierung schafft es, komplexe Ideen zugänglich zu machen, ohne dabei an intellektueller Tiefe zu verlieren. Sie fordert das Publikum heraus, unterhält es aber gleichzeitig auf höchstem Niveau.
Der wiederholt aufkommende Gedanke „Puppentheater ist unterschätzt!“ kristallisiert sich im Laufe der Vorstellung immer deutlicher heraus. Die Puppenspieler erweisen sich als virtuose Schauspieler, die das Medium Puppe meisterhaft nutzen, um komplexe Charaktere und Situationen darzustellen.
Mit ihrer Mischung aus Humor, Nachdenklichkeit und technischer Brillanz setzt diese Produktion neue Maßstäbe im zeitgenössischen Theater und unterstreicht einmal mehr die Relevanz von Brechts Werk für unsere heutige Zeit. Brechts Gespenster ist ein Stück, das lange im Repertoire des Berliner Ensembles bleiben sollte, um möglichst vielen Menschen die Chance zu geben, diese kurzweilige und schöne Unterhaltung zu erleben und dabei wertvolle Nahrung für den Geist zu erhalten.