Berliner Ensemble

„The Writer“: Häutungen im Bodennebel

Die Autorin wird von ihrem Boyfriend überwältigt. "The Writer" am Berliner Ensemble mit Pauline Knof und Max Gindorff.

Ella Hicksons „The Writer“ von 2018 ist im Werkraum des Berliner Ensembles zu sehen, ist mehr als nur ein weiteres Stück über das Schreiben – es ist ein radikales Formexperiment, das die Grenzen des konventionellen Theaters sprengt. In ihrer metatheatralischen Struktur hinterfragt die britische Dramatikerin die Form des „Well-made Play“.

Das Stück bildet verschiedene Realitätsebenen in sich aus, die jeder kreative Werkschaffende kennt. Wie Dramaturgin Jan Stephan Schmieding im Programmheft treffend beschreibt, ist Hicksons namenlose Autorin „eine Wesensverwandte von Thomas Bernhards Theatermacher“ – sie krankt „an der Welt, den eigenen hochfliegenden künstlerischen Ambitionen und der Ignoranz der sie umgebenden Menschen.“ In diesem Vexierspiel stellt die Autorin des Stücks Ella Hickson die Frage, wie neue, moderne – auch feministische – Perspektiven Struktur und Inhalte des kreativen Schaffensbetriebs verändern können.

Es gibt diese seltenen Theatermomente, die mehr sind als Kunst – sie werden zu Spiegeln der Seele. Als der letzte Ton im Theater am Schiffbauerdamm verklang, blieb ich zurück: erschüttert, entblößt, verwandelt. Hicksons „The Writer“ am Berliner Ensemble, inszeniert von Fritzi Wartenberg und Jan-Stephan Schmieding, hatte mich nicht nur berührt, es hatte mich regelrecht aufgerissen. Noch Wochen später hallte das Gesehene in mir nach – mit seltener emotionaler Wucht, die mich mitten im Alltag, in Gesprächen, in stillen Momenten überwältigte. Das Stück hatte sich in mein Bewusstsein geschmolzen, leuchtete vergrabene Winkel aus, die ich lange nicht ersonnen hatte. Ich war zutiefst berührt, erschüttert, manchmal regelrecht von mir und der theatralischen Analyse auf der Bühne des Berliner Ensemble überwältigt von der schonungslosen Wahrhaftigkeit, mit der Hickson reale Lebenswirklichkeiten in mir und davon der Welt um mich herum offenlegte. Diese Kunst hatte mich durchdrungen, sogar in einer gewissen Metaphyse gewandelt. Es ließ mich nicht mehr los, eine Resonanz, die ich seit längerem nicht mehr in mir erlebt hatte.

Die Autorin kommt nach Hause zu ihrem Boyfriend, in eine Wohnung mit einem Sofa, einem Plakat und Essgarnitur. Sie ist erschöpft von der Lieblosigkeit
Die Autorin kommt nach Hause zu ihrem Boyfriend. Sie ist erschöpft von der Lieb- und Leblosigkeit in ihrem Innern. © Moritz Haase / BE

Spiegelbilder der Leere

Die Anfangsszene bohrte sich wie ein Dorn in mein Bewusstsein. Pauline Knof als Autorin, heimkehrend in die Enge des Alltags, erschöpft vom kreativen Kampf – in ihrem Gesicht sah ich meine eigene Geschichte. Die Zufriedenheit über das Geschaffene, aber keine wirkliche Freude; die unmögliche Aufgabe, die Erwartungen des Partners zu erfüllen, während man selbst ausgezehrt ist vom immateriellen Ringen mit Worten und Gedanken, vom täglichen Versuch, die Seele auf Papier zu bannen.

Wenn ein Autor stundenlang an Formulierungen arbeitet, Tonalitäten neu arrangiert, die Seele in Worte gießt – und der Lebenspartner nichts sieht als den Geldbetrag am Ende! BWL statt Kunst, Ergebnis statt Prozess, Format statt Hingabe. Diese Szene zerschnitt meine Fassade. Der „Boyfriend“ (gespielt von Max Gindorff) sieht im gemeinsamen Essen den Höhepunkt des Tages – kochen, essen, in formatierten Rollenbildern existieren. Und man selbst will sich als Autor auch damit begnügen, mit dem eilig zusammengerührten Fertigessen, mit ehelichen Pflichten ohne Feuereifer. Man kann von so einem Menschen nie bekommen, was man eigentlich braucht – Verständnis, echte Verbindung, Resonanz.

Cover des Programmhefts zum Stück „The Writer“ im Berliner Ensemble im Theather am Schiffbauerdamm. Ein Stück aus der WORX-Reihe.
Cover des Programmhefts zum Stück „The Writer“ im Berliner Ensemble. Ein Stück aus der WORX-Reihe. © Berliner Ensemble

Patriarchat im Schlafzimmer

Die Sofa-Szenen wurden zum schmerzlichen Spiegel meiner eigenen Erfahrungen. Die Autorin, die mit ihrem Freund auf dem Sofa Sex hat – er will es als Routine, sie lässt es zu, als würde sie ihm ein Stück Brot zubereiten. Gelangweilt, erleichtert wenn es vorbei ist, innerlich abwesend. Der Versuch des Boyfriends, sie zu affizieren mehr zu geben – sie körperlich und seelisch in Bewegung zu versetzen, in ein System einzupassen, das nicht ihres ist – scheitert an der emotionalen Leere, die sich zwischen ihnen aufgetan hat. In dieser körperlichen Begegnung wird Sex zur Währung, zum Tauschgeschäft ohne Leidenschaft. Die Berührungen auf dem Sofa sind mechanisch, entfremdet, als würden zwei Fremde ein stummes Abkommen einhalten. Die körperliche Nähe verstärkt paradoxerweise nur die seelische Distanz – eine Choreografie der Entfremdung, bei der jede Bewegung, jedes Stöhnen zur einstudierten Pflichtübung wird. Der Körper ist präsent, während der Geist längst auf Reisen gegangen ist.

Ich kannte diese Lieblosigkeit, diese einseitigen Anstrengungen, diesen Versuch, in ein Format zu passen, das nicht meins war; die brillante Regie machte aus kleinen Gesten – der Position eines Beines, der Haltung eines Arms – ganze Erzählungen über innere Leere.

Noch erschütternder war die spätere Umkehrung. Die Autorin, nun mit ihrer „Girlfriend“ (eindrucksvoll gespielt von Theresa Gmachl), übernimmt selbst die Rolle des emotionalen Ausbeuters. Sie nutzt ihre neue Partnerin, wie ihr Freund sie zuvor nutzte – der Kreislauf schließt sich, nur die Rollen haben sich vertauscht. Vielleicht ist das die bitterste Erkenntnis: dass auch wir, die Unterdrückten, die Muster übernehmen können, gegen die wir uns auflehnen. Dass wir selbst zu dem werden können, was wir einst bekämpft haben.

Kreisläufe des Werdens

Mit jeder Szene erkannte ich die Spiralen meines eigenen Lebens. Wir bewegen uns nicht in geraden Linien, sondern in Kreisen; die Protagonistin durchlebte Konflikte, die mir nur allzu vertraut waren – und doch sah ich in ihren neuen Kämpfen meine alten gespiegelt. Wie oft hatte ich geglaubt, mich weiterentwickelt zu haben, nur um festzustellen, dass ich vor den gleichen Problemen stand, wenn auch in neuem Gewand! Das Stück zeigte unbarmherzig, wie wir in unserem kreativen Streben immer wieder an ähnliche Punkte zurückkehren, gefangen in einem Tanz aus Fortschritt und Regression, der sich über Jahrzehnte erstrecken kann und doch nie wirklich endet.

Die Autorin steht groß hinter ihrem Girlfriend – ist sie nun wie der „Produzent“?
Die Autorin steht groß hinter ihrem Girlfriend – ist sie nun wie der „Produzent“? © Moritz Haase / BE

Als ich das Theater verließ, trug mich eine nachdenkliche Leichtigkeit, die kaum zu beschreiben ist. Zu Hause, auf meinem azurblauen Sofa sitzend, während draußen die Dunkelheit hereinbrach und klassische Musik durch mein Wohnzimmer schwebte. Ich versuchte zu verstehen. Die Musik half dabei. Oder auch nicht. Es wurde mir die volle Tragweite des Gesehenen bewusst. Ich dachte über das Leben nach, das ich einst geführt hatte, und warum ich es nicht geschafft hatte, damit zufrieden zu sein – dieses Leben, das mir manchmal wie eine fremde Hülle erschien. Das Stück hat Urgewalt.

Mein eigener Weg ähnelte so sehr dem der Protagonistin – am Anfang meines spätadoleszenten Lebens hilflos und kompasslos, versuchend, durch Kreativität einen Platz zu finden, ohne wirklich mich selbst zu finden. In einem kreativen Hotspot der Stadt wohnend, Heil in Religion suchend, unsicher, wer ich war und sein wollte. Ich hatte mich durchgewurschtelt, versucht zur Geltung zu kommen, Medien geschaffen, Bildungsabschlüsse nachgeholt, mich zwischenmenschlich entwickelt. Ich hatte mich gehäutet, Schicht um Schicht, Emotionen gelernt und verlernt, bis die Corona-Zeit kam und mir alles nahm – ein erzwungener Neuanfang, eine grundlegende Neujustierung, ein Riss durch die Kontinuität meiner Existenz.

Manchmal denke ich, dass wir alle die gleichen Fehler wiederholen, nur in anderer Verpackung. Dass wir die gleichen Kämpfe durchleben, nur mit anderen Namen und Gesichtern. Vielleicht ist das auch okay so. Ich weiß es nicht. Das Stück hat mir keine Antworten gegeben, nur neue Fragen aufgeworfen.

Dionysos und Leda

Der Dialog zwischen der Autorin und der griechischen Mutter Natur hallte in meinen Gedanken nach – ein Nachklang, der Tage anhielt. Dionysos und Leda, diese mythologischen Figuren im Stück, wurden zu Metaphern meiner eigenen Transformation. Dionysos – der griechische Gott des Weines, der Ekstase und des Theaters – symbolisiert den kreativen Rausch, den Taumel der Inspiration, der manchmal an Wahnsinn grenzt. Leda hingegen – die sterbliche Frau, die von Zeus in Gestalt eines Schwans verführt wurde – verkörpert das Ausgeliefertsein an höhere Mächte, die Verletzlichkeit gegenüber überwältigenden Kräften und zugleich die transformative Macht dieser Begegnung.

Für mich war das einer der Schlüsselmomente, wenn man sich aus seinem eigenen Bodensatz befreit, sich an einer Liane durch den Dschungel an Möglichkeiten und Gefühlen selbst hinaus ziehen muss und dabei eine komplette Häutung durchlebt – einen Wandel der eigenen Persönlichkeit. Aus dem Bodennebel, der Anfangszeit, der Halt- und Hilflosigkeit hinaus in eine neue Wahrnehmung, Form gebracht zu werden – eine Metamorphose, die gleichermaßen beängstigend und befreiend ist.

Manchmal frage ich mich, ob ich je wirklich verstanden habe, was es bedeutet, ein Künstler zu sein. Diese Zerrissenheit zwischen dem, was man erschaffen will, und dem, was die Welt von einem verlangt. Die Autorin im Stück hat es verstanden. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht ist das gar nicht der Punkt.

Die Autorin in den Ruinen ihres Heims, ihrer warmen Welt, die doch so fern und kalt ist.
Die Autorin in den Ruinen ihres Heims, ihres warmen Rudiments, das doch so fern und kalt ist. © Moritz Haase / BE

Tagelang nach der Aufführung wandelte ich wie ein Geist durch mein Leben, eingehüllt in diesen Bodennebel der Selbstreflexion. Manchmal braucht man „einen großen Ventilator“, um diesen Nebel zu vertreiben – doch manchmal ist es schwierig, die Steckdose für den Stecker des Ventilators zu finden. Vielleicht war mein eigener „Ventilator“ die Einsicht in eine sehr schwere Trennung – nicht nur von einer besonderen Frau, sondern von Gewissheiten, die ich für unerschütterlich gehalten hatte.

Schmerz der Häutung

Was mich am meisten erschütterte: Das Stück bestätigte meine Erfahrungen, anstatt sie zu verändern. Ich fühlte mich zutiefst verstanden von Hicksons Text und Knofs kraftvoller Darstellung; die Anspannung, die Traurigkeit, der „mitfühlende Stress“ – all das überraschte mich in seiner Intensität, „weil es ja eigentlich nur ein Stück ist.“ Doch wie oft sind es gerade die Kunstwerke, die uns am tiefsten berühren, weil sie Wahrheiten aussprechen, die wir selbst nicht zu formulieren wagen? Wie oft haben wir das Gefühl, dass ein fremder Geist unsere verborgensten Gedanken gelesen hat und sie uns nun, in der schonungslosen Ehrlichkeit der Kunst, zurückspiegelt?

In diesem ewigen Kreislauf des Schaffens und Scheiterns, des Wachsens und Zurückfallens liegt vielleicht unsere tiefste menschliche Wahrheit. Jeden Tag entwickeln wir uns ein bisschen weiter. Manchmal gibt es eine Art Kipppunkt, einen Evolutionsschritt in der eigenen Entwicklung. Aber immer wieder finden wir uns in äußeren Zwängen wieder, die doch große Ähnlichkeit aufweisen. Manchmal ändern wir auch bloß die eigene Rolle – man ist in derselben schwierigen Situation wie vielleicht vor einigen Jahren schon einmal, nur an einer anderen Position.

Die gleichen Konflikte. Das gleiche Ringen. Und doch bin ich heute ein anderer als damals, als ich noch versuchte, mich in die Formen zu pressen, die andere für mich vorgesehen hatten. Das Stück hat mich daran erinnert. Es hat mich zurückgeworfen und gleichzeitig nach vorn gedrängt.

Pauline Knof als "Autorin" in der Natur, während sie ihre Erweckung hat.
Pauline Knof als „Autorin“ in der Natur, während sie ihre Erweckung hat. © Moritz Haase / BE

Sich immer wieder zu hinterfragen und weiterzuentwickeln ist furchtbar schwierig. Es fordert nicht nur von einem selbst sehr viel ab, sondern auch vom eigenen Umfeld – den Menschen, die uns nahe stehen und mit jeder unserer Häutungen konfrontiert werden. Die eigenen Umstände, die eigenen Verhältnisse können sich immer wieder anpassen und verändern, man selbst aber nicht – oder doch? Man selbst ist nur eine Art Körper, der immer wieder geschält wird; Lage für Lage kann Selbsterkenntnis freigelegt werden, doch das ist furchtbar – viel Arbeit, die manchmal niemand zu würdigen weiß.

Dennoch, in den Tiefen dieser Verzweiflung keimt ein winziger Funke Hoffnung. Vielleicht liegt in diesem Kreislauf nicht nur unser Fluch, sondern auch unsere Erlösung. In jedem Durchgang, in jeder schmerzhaften Häutung, kommen wir unserem wahren Selbst ein Stück näher – wie Dionysos und Leda, die durch Transformation zu einer tieferen Wahrheit finden.

Dieser Text wurde am 28. September 2024 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.