Sechs Jahre lang war die St. Hedwigskathedrale, Berlins bedeutendster katholischer Sakralbau, hinter Bauzäunen verborgen. Was sich dahinter vollzog, war weit mehr als eine bloße Sanierung – es war eine radikale Neuinterpretation des Raumes, die nun, nach der feierlichen Wiedereröffnung zum Christkönigsfest, heftige Klimax einer Kontroverse ist.
Der Umbau, der rund 60 Millionen Euro verschlang, hat einen Kirchenraum geschaffen, der die Gemeinde spaltet: Zwischen moderner Abstraktion und liturgischer Funktion, zwischen intellektuellem Anspruch und gelebter Spiritualität öffnet sich ein Graben, der Fragen nach dem Wesen sakraler Architektur im 21. Jahrhundert aufwirft.
Die kürzlich zum Christkönigsfest wiedereröffnete St. Hedwigskathedrale in Berlin steht exemplarisch für ein tiefgreifendes Dilemma moderner Sakralarchitektur: den Konflikt zwischen zeitgenössischer Ästhetik und gelebter spiritueller Praxis. Die Neugestaltung des Kirchenraums offenbart dabei eine fundamentale Diskrepanz zwischen architektonischem Anspruch und liturgischer Realität, zwischen intellektueller Konzeption und praktischer Nutzbarkeit.
Death of Detail als Verlust kultureller Identität
Die neue Gestaltung der Kathedrale manifestiert sich in einer bemerkenswerten Reduktion, die als „Death of Detail“ bezeichnet werden kann. Was auf den ersten Blick als moderne Klarheit erscheinen mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als problematische Nivellierung historisch gewachsener Bedeutungsschichten. Die ehemals charakteristische Gestaltung, die von der Geschichte der Berliner Katholiken und ihrer schlesischen Wurzeln zeugte, ist einer anonymen Glanzlosigkeit von Schwarz und Weiß gewichen.
Besonders augenfällig wird diese Transformation an den Fenstern: Der Versuch, einen „Sternenhimmel von Bethlehem“ zu kreieren, resultiert in einer Gestaltung, die ungewollt an simple Baumarktfolien erinnert. Während traditionell in Kirchenfenstern die Geschichten der Heiligen und der Bibel lebendig gemacht wurden, weichen die kleinteiligen bunten Flächen nun einer wabernden Folie, wie man sie aus calvinistischen Bildersturmkirchen kennt.
Diese unbeabsichtigte Analogie zum Profanen steht symptomatisch für eine grundlegendere Problematik: die Unfähigkeit, eine authentische sakrale Formensprache zu entwickeln, die sich von der Ästhetik alltäglicher moderner Funktionsbauten unterscheidet. Eine Kathedrale ist eben kein Finanzamt.
Von der Arbeiterkirche zur intellektuellen Abstraktion
Die Geschichte der St. Hedwigskathedrale ist eng mit der Berliner Arbeiterkultur verwoben. Von der katholischen Verfolgung in Preußen über die Einschränkungen in der DDR-Zeit bis hin zur mühevollen Nachkriegsrekonstruktion mit ihren charakteristischen Betonbögen – der Bau verkörperte stets den Geist einer tatkräftigen Gemeinde. Eine überlieferte Anekdote besagt sogar, dass die ursprünglichen Erbauer nicht einmal genug Geld für das Dach hatten. Die Geschichte des Baus ist damit eng verwoben mit der Geschichte der Not und des Durchhaltevermögens seiner Gemeinde. Die handwerkliche Qualität der früheren Ausstattung, von den Wandteppichen bis zur Mondsichelmadonna auf dem Betonsockel, spiegelte diese Verbundenheit mit der arbeitenden Bevölkerung wider.
Das St. Hedwig nach dem Umbau hingegen erscheint wie eine intellektuelle Abstraktion ohne Bodenhaftung – eine Kopfgeburt aus dem Elfenbeinturm, die den Bezug zur gelebten Religiosität verloren hat. Diese Entfremdung zeigt sich besonders deutlich in der Tradition des Festes Joseph der Arbeiter am 1. Mai – während die alte Kathedrale mit ihrer handgemachten Struktur diese Verbindung zur Arbeiterkultur authentisch verkörperte, wirkt der neue Raum wie eine sterile Übung in Abstraktion. Die Beliebigkeit der Formensprache, die ebenso gut zu einem Museum, einer evangelischen Kirche, einer Moschee oder einem Finanzamt passen würde, negiert die spezifische Geschichte und Identität des Ortes. Besonders problematisch erscheint dabei die unverkennbare „Protestantisierung“ des katholischen Kirchenraums. Die neue Gestaltung folgt einer protestantischen Ästhetik der Reduktion, die dem traditionell bildreichen und sinnlichen Charakter katholischer Sakralräume fundamental widerspricht. Die Transformation erinnert an die Umgestaltungen katholischer Kirchen während der Reformation – nur dass sie diesmal nicht aus theologischer Überzeugung, sondern aus gestalterischem Kalkül erfolgt. Die Vereinheitlichung der konfessionellen Formensprachen verwischt dabei nicht nur historisch gewachsene Unterschiede, sondern entfremdet den Raum von seiner liturgischen Tradition und seinem ekklesiologischen Selbstverständnis.
Funktional kaputt designed
Die praktischen Mängel der neuen Raumkonzeption offenbaren sich besonders während der liturgischen Nutzung. Die fehlende Erhöhung des Altarraums erschwert die visuelle Teilhabe an der Eucharistie, die doch als äußere Gestalt der Konsekration zentrale Bedeutung hat. Die akustische Gestaltung zeigt eine bezeichnende Fehlgewichtung: Während Orgel und Chor gut zu hören sind, ist das eigentlich zentrale Altargeschehen schwer zu verstehen – ein Mangel, der selbst von beteiligten Priestern bemängelt wird. Die Bestuhlung mit ihren überdimensionierten Abständen konterkariert den Gemeinschaftsaspekt des Gottesdienstes, macht selbst den einfachen Austausch über Liedtexte zum Rufen über mehrere Plätze hinweg und verhindert die gewünschte Nähe zu Familie und Freunden während des Gottesdienstes., während die mangelnde Akustik die Verständlichkeit der Liturgie beeinträchtigt.
Details wie unbequeme Kniebretter, fehlende Ablage für liturgische Bücher und die an Flughafen-Lounges oder ICE-Interieurs erinnernde Holzverkleidung zeugen von einer fundamentalen Verkennung liturgischer Bedürfnisse. Die Holzbretter der Bänke und Einbaumöbel wirken durch ihre nicht gehehrte Ausführung grobschlächtig, wenn auch handwerklich gut ausgeführt. Die Stühle selbst klappern und sind mit einem dünnen Filz versehen, der an IKEA-Einrichtungsideen erinnert, während ausgerechnet die tiefen und scharf gekanteten Kniebretter keine Polsterung aufweisen. Der Altar selbst, in seiner Anmutung eines Designer-Waschbeckens, symbolisiert die Kluft zwischen ästhetischem Anspruch und sakraler Funktion.
Musealisierung nur Frage der Zeit
Die radikale Modernisierung der St. Hedwigskathedrale droht, den Bau in ein „Museum seiner selbst“ zu verwandeln. Während der Raum früher von einer organisch gewachsenen Gestaltung lebte, in der jedes Detail eine Geschichte erzählte und von der aktiven Nutzung durch die Gemeinde zeugte – von selbstgeschweißten Bänken bis zu charaktervollen Liedertafeln – präsentiert sich der Raum heute in einer sterilen Reduktion, die zwar designorientiert, aber leblos wirkt. Die sterile Pflege des Raums könnte paradoxerweise zu seinem spirituellen Tod führen, wenn sie die Menschen entfremdet, die diesem Ort bisher Leben und Bedeutung gaben. Eine Kathedrale ohne aktive Gemeinde, ohne Menschen, die sich mit ihr identifizieren und sie als spirituelle Heimat annehmen, verliert ihre eigentliche Funktion als Ort der Gemeinschaft und des Lernens.
Verlust des Genius Loci
Was sich in der Neugestaltung der St. Hedwigskathedrale manifestiert, ist letztlich der Verlust des genius loci – jenes spezifischen Geistes des Ortes, der sich über Jahrzehnte in der Wechselwirkung zwischen Architektur und Gemeinde entwickelt hatte. Die neue Gestaltung ignoriert die emotionale und spirituelle Dimension des Raums zugunsten einer zeitgenössischen Ästhetik, die zwar modern erscheinen mag, aber die eigentliche Funktion einer Kathedrale als Ort der gelebten Spiritualität und Gemeinschaft verfehlt.
Die Transformation der St. Hedwigskathedrale steht damit ganz herausgehoben für eine breitere Entwicklung in der zeitgenössischen Sakralarchitektur: die zunehmende Entfremdung zwischen architektonischer Vision und religiöser Praxis, zwischen ästhetischem Anspruch und spiritueller Realität. Interessanterweise findet sich in der Gestaltung der inneren Kuppel mit ihrem an Berliner Techno-Clubs erinnernden Würfel-Design zwar ein lokaler Bezug, doch auch dieser wirkt eher beliebig und dem Raum nicht angemessen. Selbst wenn man dem Schwarz-Weiß-Konzept grundsätzlich aufgeschlossen gegenübersteht, zeigt sich hier, dass ein Gestaltungsansatz, der für eine Bibliothek oder ein Theater angemessen sein mag, nicht automatisch für einen Kirchenraum taugt. Die Frage, wie sich authentische sakrale Räume im 21. Jahrhundert gestalten lassen, ohne dabei ihre spirituelle und gemeinschaftsstiftende Funktion zu verlieren, bleibt damit dringlich aktuell.