Modische Zeitenwende Neunziger

Polyester im Plattenbau

Russische junge Frau im Trainingsanzug in Ost-Berlin mit einem DDR-Plattenbau im Hintergrund.

In den 90er Jahren erlebten die Plattenbausiedlungen Ost-Berlins eine modische Revolution. Der Trainingsanzug wurde zum Symbol gesellschaftlicher Veränderungen, beeinflusst durch Zuwanderung und wirtschaftliche Umbrüche. Dieser Artikel beleuchtet die kulturelle Bedeutung dieses Kleidungsstücks und seine Rolle in der Transformation einer Generation.

In den grünen Oasen zwischen den Plattenbauten Ost-Berlins vollzog sich in den 90er Jahren eine stille Revolution. Als Kind, das in dieser Zeit in einer der ikonischen Plattenbausiedlungen aufwuchs, erlebte ich hautnah, wie ein simples Kleidungsstück zum Spiegel gesellschaftlicher Umwälzungen wurde: der Trainingsanzug.

Die Plattenbausiedlungen, oft fälschlich als Beton-Wüsten stigmatisiert, waren in Wirklichkeit durchzogen von Grünflächen und Spielplätzen. In diesem Mikrokosmos manifestierte sich der Trainingsanzug als Indikator sozialer Strömungen. Er war allgegenwärtig, doch seine Bedeutung variierte je nach Träger und Kontext.

Mit der Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken erfuhr der Trainingsanzug eine kulturelle Aufladung. Die pauschal als “Russen” bezeichneten Neuankömmlinge – oft tatsächlich wohl eher aus verschiedenen Sowjetrepubliken stammend – importierten nicht nur ihre Version des Kleidungsstücks, sondern auch dessen sozialen Subtext. Was in Moskau oder Kiew der späten 80er Jahre Statussymbol war, wurde in Ost-Berlin der 90er zum Erkennungszeichen einer Subkultur.

Im Trainingsanzug zur Kaufhalle

In meiner Schulklasse saß ich neben Ljudmilla aus der Ukraine, die mir von ihrem Heimatland erzählte – ein Land, das ich damals nur aus dem Erdkundeunterricht kannte. Diese persönlichen Begegnungen verdeutlichten die Komplexität der vermeintlich homogenen “russischen” Einwanderergruppe. Den Trainingsanzug sah man in den Spezialitätenregalen in der Kaufhalle, dort wo man Fisch in Dosen oder Plombir-Eis finden konnte.

Polenmarkt als Prädikat

Der Polenmarkt fungierte als Umschlagplatz dieser textilen Zeitenwende. Hier fand der ökonomische Pragmatismus sein modisches Äquivalent. Originalware war die Ausnahme, Fälschungen die Regel. “Die Qualität ist genau so gut”, hieß es oft, wenn man auf dem Polenmarkt einkaufte. Diese Einstellung spiegelte die wirtschaftliche Realität einer Gesellschaft im Umbruch wider.

Paradoxerweise wurde der Trainingsanzug in Zeiten des aufkeimenden Turbokapitalismus zum Gleichmacher. Er verwischte soziale Grenzen, während er gleichzeitig neue Distinktionsmerkmale schuf. Die Russen trugen oft farblich aufeinander abgestimmte Trainingsanzüge aus glänzendem Kunststoff – ein Look, der sie von der einheimischen Bevölkerung deutlich unterschied.

Metamorphose zur Ernsthaftigkeit

Im Laufe des Jahrzehnts vollzog der Trainingsanzug eine interessante Metamorphose. Von der ernsthaften Alltagskleidung mutierte er zum ironischen Statement. Deutsche Jugendliche trugen plötzlich Trainingsanzüge mit der Aufschrift “Ost-Berlin” – eine Form der Identitätsbehauptung in Zeiten des Wandels.

Die Wahrnehmung der “russischen” Einwanderer war ambivalent. Einerseits gab es Vorurteile – laute Feiern und übermäßiger Alkoholkonsum wurden oft kritisiert. Andererseits lernten viele deutsche Schüler Russisch, sei es aus Interesse oder um sich das Abitur zu erleichtern.

Heute bewohne ich Berlin-Mitte und arbeite auch in Mitte, in einem der nun begehrten ehemaligen DDR-Plattenbauviertel. Ich betrachte diese Entwicklung mit großem Interesse. Der Trainingsanzug war mehr als ein Kleidungsstück; er war Seismograph einer Gesellschaft im Umbruch. Und diese Bedeutung bekommt er wieder – er ist zurück in den Straßen Berlins. In dem Teil aus Kunstfaser manifestierten sich die Hoffnungen, Ängste und Widersprüche einer ganzen Generation – vielleicht sogar einer Epoche.

Diese modische Zeitenwende verdeutlicht, wie sehr Alltagskultur und gesellschaftlicher Wandel verwoben sind. Einst brachten “die Russen” ihren Kleidungsstil mit nach Ost-Berlin und nun trägt er die breite der Gesellschaft. Heute ist der Trainingsanzug ein Gegenstand für nostalgische Betrachtungen – ein Stück Stoff, das die Geschichte der Verwandlung in sich trägt. Er zeigt uns wie kulturelle und soziale Hierarchien neu verhandelt werden.