Bundestag

Parlamentarisches Neuland

An einem sonnigen Dienstagvormittag konstituierte sich heute der 21. Deutsche Bundestag. Julia Klöckner (CDU), die Erfinderin des Lebensministeriums, wurde zur neuen Bundestagspräsidentin gewählt. Sie kam als einfache Abgeordnete in einem Fahrzeug des Fahrdienstes und fuhr als protokollarisch zweite Person im Staat davon – eine Metamorphose im Herzen der Republik, vollzogen in wenigen feierlichen Stunden.

Die Sitzung wurde vom Alterspräsidenten Gregor Gysi geleitet, der schon mehrfach seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hatte, dem Bundestag aber seit Jahrzehnten die Treue hält. Der 77-jährige Linken-Politiker gehört dem Parlament seit fast 31 Jahren an – länger als manche neue Abgeordnete alt sind. Selbst als der Autor dieser Zeilen noch nicht geboren war, saß Gysi bereits als Abgeordneter in der Volkskammer der DDR. Im März 1990, kurz vor dem Ende der DDR, begann seine parlamentarische Laufbahn, die ihn nun zum dienstältesten Parlamentarier und damit zum Alterspräsidenten machte.

Der 21. Deutsche Bundestag ist noch frisch, wie eine schraffe Schrippe, die noch auskühlen muss. Die Abgeordneten kennen sich noch nicht richtig, 230 neue Parlamentarier sind im hohen Haus angekommen und es formt sich zu insgesamt 630 Abgeordneten – ein neues Orchester, das seine Instrumente erst stimmen muss, während das Publikum schon ungeduldig mit den Programmheften raschelt.

Der alte Gysi

Gregor Gysi, der eigentlich bloß bei seinem Nachnamen bekannt ist und zwischen Marxismus und Marketingweisheit, zwischen Tradition und Transzendenz umher wandert, nutzte sein Podium. Er wollte den Anwesenden wohl ins Gewissen reden. Das Land, sagte er, sei unser letzter Rohstoff, und die Bäume darauf hätten wir „bisher nicht geschützt“. Während er sprach, schien der Plenarsaal zuzuhören wie einem schlauen Waldflüsterer, der die intrikaten Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Ökologie in wenigen Sätzen zu fassen vermag – ein rhetorischer Naturdenkmalschutz im Treibhaus der Demokratie.

Von der Pressetribüne aus war zu beobachten, wie diese Worte manche Abgeordneten sichtbar affizierten. Einige rutschten unbehaglich auf ihren blauen Sitzen, als säßen sie plötzlich auf Brennnesseln statt auf deutschem Polster, andere nickten zustimmend wie Sonnenblumen im Augustwind. Die Landwirtschaft – dieses unsichtbare Band zwischen Urbanität und ländlichem Raum – fand in Gysis Rede einen unerwarteten Anwalt. Er sprach von Fachkräftemangel, der den Agrarsektor belastet, und von Ernährungssicherheit in einer Welt, deren Hunger chronisch ist und deren Appetit auf Ressourcen unstillbar scheint.

Präsidiale Brüskierung

Auf der Besucherebene des Kuppelbaus folgte Frank-Walter Steinmeier dem Geschehen mit jener spezifischen Miene, die Bundespräsidenten über Jahrhunderte perfektioniert haben – äußerlich unbewegt wie eine Bronze-Büste, innerlich wägend wie ein Schiedsrichter vor der schwierigsten Entscheidung des Turniers. Später ließ er im öffentlichen Bereich der Besucherebene eine Bemerkung fallen, die einem diplomatischen Steinwurf gleichkam: Die Rede sei zwar „akustisch gut zu verstehen gewesen“, ihr Inhalt habe ihn jedoch „nicht überzeugt“.

Ein bemerkenswerter Moment präsidialer Distanzierung, eine fast opernhafte Szene im Theater der Demokratie. Der oberste Repräsentant des Staates, der seiner Rolle gemäß über den Parteien schwebt wie ein politischer Zeppelin, nahm sich die Freiheit einer Kritik, die unter dem Radar der meisten Anwesenden flog, aber dennoch ihre Wellen schlug wie ein heimlich ins Wasser geworfener Kiesel.

Klöckners neues Zepter

Als Klöckner dann ans Pult trat, ihren Amtseid leistete und ihre erste Rede als Bundestagspräsidentin hielt, zeichnete sich ab, dass hier keine Statuspräsidentin das Zepter übernehmen würde. Die ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin, Winzertochter und Journalistin, kündigte eine Reform des parlamentarischen Fragerechts an – ein legislatives Werkzeug, das für Fachmedien wie die Agrarzeitung oft Gold wert ist, wenn nicht gar die letzte Fundgrube in der Wüste der politischen Transparenz.

Die „unverzichtbaren Kontrollinstrumente der Legislative“ wolle sie stärken, betonte sie mit jenem rheinländischen Zungenschlag, der Härte in Herzlichkeit zu kleiden vermag wie ein guter Riesling seine Säure in Süße. Beobachter im Saal spürten: Hier nimmt jemand das Parlament ernst – vielleicht ein Impuls zur rechten Zeit für eine Institution, deren Ansehen in stürmischen Zeiten schwankt wie Weizen im Sommerwind, wenn die Traktoren der Populisten die demokratischen Feldwege durchpflügen.

Ausschusstanz

Nun beginnt der komplizierte Tanz der Ausschussbesetzungen. Der Agrarausschuss, jenes Gremium, in dem sich entscheidet, was auf deutschen Feldern wächst und wie das Land seine Ernährungssouveränität bewahrt, wartet auf seine Mitglieder wie ein leerer Bienenstock auf seinen Schwarm. Die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD verlaufen in der sogenannten Redaktionsphase – einem Begriff, der klingt, als würde man lediglich Kommas setzen, während in Wahrheit um Milliarden und Macht gerungen wird wie beim Freistilringen in Samthandschuhen.

Friedrich Merz, der sich im Hintergrund als potenzieller Kanzler bereit hält wie ein Schachspieler, der seinen entscheidenden Zug plant, schaut auf ein Parlament, das sich verändert hat: Die AfD und Die Linke sind gestärkt, während FDP und BSW an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Es ist, als hätten die Wähler beschlossen, das politische Spektrum neu zu sortieren – eine Herausforderung für jene, die Mehrheiten organisieren müssen wie Kinder auf dem Schulhof ihre Mannschaften für den Nachmittagskick.

Schulden im Gepäck

Die Legislaturperiode beginnt im Schatten eines Schuldenpakets in Billionenhöhe – eine Bürde, die wie eine schwappende Flasche im Rucksack auf den Schultern des neuen Parlaments breit macht, vollgepackt mit pekuniären Brocken. Einerseits winken Investitionen in ländliche Infrastruktur wie morgendlicher Tau auf verdorrten Fluren, andererseits drohen fiskalische Belastungen für jene, die ohnehin am Limit wirtschaften wie Bienen im späten Herbst.

Während die 630 Abgeordneten den Plenarsaal verließen, schien der Raum noch erfüllt von der Bedeutsamkeit des Moments – ein parlamentarisches Vakuum, das darauf wartet, mit Ideen, Debatten und Entscheidungen gefüllt zu werden. Der 21. Deutsche Bundestag hat seinen ersten Atemzug getan wie ein Neugeborenes, das erst noch lernen muss, seine Stimme zu finden. Was er in den kommenden vier Jahren sprechen wird, bleibt abzuwarten – nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für ein Land, das wie seine frisch gewählten Vertreter nach Orientierung sucht in einer Welt, die sich rasant verändert wie ein Wetterbericht im April.

Dieser Text wurde am 25. März 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.