Wozu kriegstüchtig sein?

Materielle Teilhabe als Voraussetzung für Verteidigungsbereitschaft

Materielle Teilhabe als Voraussetzung für Verteidigungsbereitschaft

Im beginnenden Sommer dieses Jahres kam ich an der Julius-Leber-Kaserne in Berlin an, einer militärischen Liegenschaft am ehemaligen Flughafen Tegel gelegen und Sitz von mehr als 130 Dienststellen der Bundeswehr. Auch das Bundesministerium der Verteidigung hat dort einen Ausweichsitz, sowie auch zahlreiche Stäbe dort hinter einer Mauer und historischen Gebäuden sind. Ich war dort, um mir erklären zu lassen, worum es so bei der zivil-militärischen Verteidigung ankommt.

An der Pforte wurde ich bereits von der militärischen Wache empfangen – die Fotos, die der mitgenommene Fotograf gemacht hat, erregten Aufmerksamkeit. Eine blaue Linie am Eingang stellt offenbar eine Markierung dar, wo der militärische Sicherheitsbereich – und somit der Gebrauch der scharfen militärischen Schusswaffe – beginnt. Die Einfahrt ist geschäftig und grün uniformierte Soldaten der Feldjägertruppe mit Wacharmbinde prüfen die einfahrenden Zivilfahrzeuge. Das ist grundsätzlich ja auch gut, denn wir diskutieren ja immer wieder über die Verfügbarkeit von Daten im Spannungsfeld zwischen der Verfügbarkeit öffentlicher Daten und der obskuren Abschreckung durch Verschleiern, Tarnen und Täuschen.

Die Einfahrt ist geschäftig und grün uniformierte Soldaten der Feldjägertruppe mit Wacharmbinde prüfen die einfahrenden Zivilfahrzeuge. Das ist grundsätzlich ja auch gut, denn wir diskutieren ja immer wieder über die Verfügbarkeit von Daten im Spannungsfeld zwischen der Verfügbarkeit öffentlicher Daten und der obskuren Abschreckung durch Verschleiern, tarnen und täuschen.

Patrick Pehl vor der Julius-Leber-Kaserne in Berlin. Es ist ein Schnappschuss an einem Sommertag.
Das Corpus Delicti: Ein Schnappschuss an einem Sommertag vor der Julius-Leber-Kaserne in Berlin. © Max Hartmann 2025

800.000 NATO-Soldaten sollen durch unser Land geschleust werden, wenn es hart auf hart kommt. Die Landwirtschaft wird zur kritischen Infrastruktur erklärt. Cybersicherheit für GPS-gesteuerte Mähdrescher. Resiliente Lieferketten für Diesel und Saatgut, sowie die viel beschworene digitale Souveränität in Deutschland.

Ich saß dort im Vortragssaal und dachte: Was genau verteidigen wir hier eigentlich? Diese Frage ließ mich nicht mehr los, auch Wochen später nicht. Nicht etwa, weil ich grundsätzlich militärfeindlich wäre – ich habe meinen Wehrdienst geleistet, sogar über die Pflichtzeit hinaus, und bot mich einst dem Heimatschutz als Reservist an. Das System Bundeswehr kenne ich von innen, seine Logik ist mir nicht fremd.

Aber die Selbstverständlichkeit, mit der heute wieder über Verteidigung geredet wird, irritiert mich. Als ob klar wäre, was da verteidigt werden soll.

Der Operationsplan Deutschland ist als Solcher geheim, soviel wurde deutlich gemacht. Aber seine Grundzüge sind simpel: Deutschland wird zur logistischen Drehscheibe für NATO-Truppen, die an die Ostflanke verlegt werden müssen. Das Land verwandelt sich in einen riesigen militärischen Transitraum. Autobahnen werden zu Nachschubwegen, Rastplätze zu Convoy-Support-Centern, Landwirtschaftsbetriebe zu schützenswerten Versorgungsanlagen. Die Zivilgesellschaft soll sich darauf einstellen, dass nichts mehr so bleibt wie es war.

Während über hybride Bedrohungen und resiliente Strukturen gesprochen wurde, wanderte mein Blick durch den Saal. Wer waren diese Menschen, die sich hier über Verteidigung informieren ließen? Vertreter von Verbänden, Kommunalpolitiker, ein paar Journalisten. Leute wie ich, die sich fragten, was das alles mit ihnen zu tun hat. Und je länger ich zuhörte, desto klarer wurde mir: Diese Frage nach dem Was der Verteidigung wird gar nicht gestellt. Es wird über das Wie geredet, über Kapazitäten und Verfahren, über Strukturen und Prozesse.

Aber das fundamentale Warum bleibt ausgespart.

Trotzige Verweigerung als Symptom

Ole Nymoen hat diese Frage gestellt – auf seine Art. Der 27-jährige Autor saß bei Markus Lanz und verkündete trotzig: „Ich bin lieber besetzt als tot.“ Deutschland verteidigen? Nicht mit ihm. Die NATO unterstützen? Auch nicht. Seine Begründung war so radikal wie oberflächlich: „Mir ist der Staat nicht mein Leben wert.“

Die Reaktionen waren vorhersagbar empört. Andere Gäste warfen ihm Trittbrettfahrertum vor, sprachen von europäischer Solidarität und demokratischen Werten. Sie malten Schreckensszenarien russischer Besatzung an die Wand und erinnerten an die tapferen Ukrainer, die ihr Land verteidigen. Aber Nymoen blieb stur bei seinem Nein. Ein Nein ohne weitere Begründung, ein trotziges Nein wie von einem bockenden Kind, das keine Lust auf etwas hat, was die Erwachsenen von ihm verlangen.

Das Problem mit Nymoens Position ist nicht ihr Pazifismus – das Problem ist ihre intellektuelle Dürftigkeit. Er verweigert sich, ohne zu erklären warum. Er lehnt ab, ohne zu analysieren was er wirklich ablehnt. Ole Nymoen scheint einfach reaktionär auf einem Zufallserfolg eines Zeitungsartikels aufzubauen. Seine Kriegsdienstverweigerung bleibt pure Negation, ohne jeden konstruktiven Gehalt. Bei Lanz sagte er ja selbst, dass es zunächst ein Beitrag für die Wochenzeitung DIE ZEIT war und dann aus diesem Artikel ein Buch gemacht wurde – das merkt man auch. Seine Empörungsökonomie trägt eben nicht weit. Schnell wird es einfach bloßer Trotz.

Dabei liegt in seinem instinktiven Nein durchaus eine berechtigte Intuition.

Nur kommt er nicht zu ihrem Kern vor.

Denn Nymoens Generation – und ich schließe mich da durchaus ein – hat ein Problem: Sie besitzt nichts, was es zu verteidigen lohnen würde. Keine Häuser mit Rosenbüschen im Vorgarten, keine Äcker mit jahrhundertealtem Familienbesitz, keine Betriebe mit Generationen von Tradition. Was sie haben, ist beweglich: ein Laptop, ein paar Möbel, Daten in der Cloud. Alles packt sich in einen Transporter und ist binnen Stunden wo anders.

Warum sollte man für so etwas sein Leben riskieren?

Materielle Basis der Verteidigungsbereitschaft

Stellen wir uns vor, wie Verteidigung früher funktionierte – nicht in romantischer Verklärung, sondern als nüchterne Interessenabwägung. Da war ein Junker mit seinem Gut. Acker, Wald, Wirtschaftsgebäude, eine jahrhundertealte Familiengeschichte, die sich in Steinen und Grund manifestierte. Wenn Feinde kamen, stand für ihn alles auf dem Spiel: seine wirtschaftliche Existenz, sein gesellschaftlicher Status, die Zukunft seiner Nachkommen. Natürlich verteidigte er das mit allen Mitteln.

Oberst i. G. Schaus vor den alten Garagen in der Julius-Leber-Kaserne, im Hintergrund ein altes taktisches Zeichen einer Feldjägereinheit.
Oberst i. G. Schaus vor den alten Garagen in der Julius-Leber-Kaserne, im Hintergrund ein altes taktisches Zeichen einer Feldjägereinheit. © Max Hartmann 2025

Seine Knechte und Pächter kalkulierten anders, aber nicht weniger rational. Sie lebten auf seinem Land, kannten jeden Winkel, jeden Pfad. Ihre Familien wohnten in den Dörfern ringsum, ihre kleinen Gärten und Werkstätten, ihre sozialen Bindungen – alles hing an diesem Ort. Weglaufen bedeutete, alles zu verlieren und anderswo bei null anzufangen. Also kämpften sie mit, nicht aus Patriotismus, sondern aus materieller Notwendigkeit. Der Junker bot ihnen Schutz und Arbeit, sie boten ihm ihre Arbeitskraft und im Ernstfall ihr Leben.

Ein Deal auf Gegenseitigkeit, brutal, aber verständlich.

Der würde dann quasi als Bandenchef dafür sorgen, dass seine Mitstreiter und Knechte das Gut verteidigen, sich an den Ausfallstraßen aufstellen und den Weinberg, das Dorf oder die Gelasse verteidigen. Die Knechte würden dann in eine Art Söldnerstatus gehen und im Auftrage des Junkers dessen Hab und Gut mit ihrem kostbaren Leben verteidigen.

Heute ist das anders. Ich selbst besitze keinen Quadratmeter deutschen Bodens. Keine Produktionsanlage, kein Geschäft, kein Familienerbe, das mich territorial bindet. Meine Güter sind immateriell oder transportabel. Ideen, Texte, Kontakte, ein paar persönliche Gegenstände. Sollte eine ernsthafte Bedrohung aufkommen, packe ich meinen Kram zusammen und fahre nach Spanien, Italien oder auch nur nach Österreich. Dort kann ich genauso gut arbeiten, schreiben, leben. Warum sollte ich mich für ein Territorium kämpfend dahinraffen lassen, zu dem mich keine materielle Bindung hält?

Das ist nicht Feigheit, sondern Rationalität. Wer nichts Unversetzbares – oder Immobiles – besitzt, hat auch nichts Territoriales zu verteidigen. Wer keine Wurzeln geschlagen hat, kann sie auch nicht aus der Erde reißen lassen. Sogar Jesus hatte bereits in seinem Gleichnis von Verwurzelungen gesprochen: Sobald er um des Wortes willen bedrängt oder verfolgt wird, kommt er sofort zu Fall. Auch wenn es etwas aus dem Zusammenhang gerissen scheint, so ist der Grund doch der Gleiche. Das Problem liegt nicht bei den Nymoens dieser Republik – das Problem liegt bei einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder systematisch besitzlos hält und dann von ihnen verlangt, fremden Besitz mit ihrem Leben zu verteidigen.

Aber die aktuelle Generation, wie sie Ole Nymoen beschreibt, hat das nicht. Man hat nichts außer seiner Haut und ggf. Blutsbande. Um das Land also verteidigungsfähig zu machen, braucht es neben Milliarden für Gerät auch fruchtbare Investitionen in Gleichheit und Gerechtigkeit. Wenn Besitzverhältnisse nicht gleichgemacht, aber gerecht verteilt sind, haben Menschen etwas was ihnen etwas bedeutet.

Abstrakte Werte, konkrete Interessen

„Wir verteidigen Demokratie und Freiheit“, heißt es in den politischen Sonntagsreden. Schöne Worte, keine Frage. Aber was bedeuten sie konkret für jemanden, der zur Miete wohnt, dessen Job jederzeit wegrationalisiert werden kann, dessen Zukunft von Algorithmen und Aktienkursen abhängt? Demokratie ist das Recht, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen – aber nicht das Recht auf Mitsprache über die eigenen Lebensbedingungen.

Oberst i. G. Schaus im Gespräch über den Operationsplan Deutschland und die zivil-militärische Zusammenarbeit
Oberst i. G. Schaus im Gespräch über den Operationsplan Deutschland und die zivil-militärische Zusammenarbeit © Max Hartmann 2025

Freiheit ist die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Produkten zu wählen – aber nicht die Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen.

Diese Abstraktheit der propagierten Werte wird besonders deutlich, wenn man Ost- und Westdeutschland vergleicht. Im Osten existiert eine dialektische Dichotomie zwischen dem idealisierten Bild der Freiheit, das 40 Jahre lang über RIAS, ARD und ZDF vermittelt wurde, und der heutigen Realität meinungsverengender Algorithmen. Man hat die maximale Publikationsfreiheit im Internet – und gleichzeitig das Gefühl, wieder in Codes reden zu müssen, um nicht von der digitalen Öffentlichkeit abgestraft zu werden.

Ostdeutsche verstehen Demokratie direkter, unmittelbarer. Sie wählen Menschen in Funktionen, damit diese konkrete Ideen umsetzen. Funktioniert das nicht, wird abgewählt – revolutionär gedacht, könnte man sagen. Westdeutsche haben eine repräsentativere, vermitteltere Herangehensweise. Sie wählen abstrakte Bilder, vertrauen auf Institutionen, denken in Parteizugehörigkeiten statt in Sachfragen.

Freiheit und Demokratie sind in Ostdeutschland sehr direkt gedacht, während man in West-Deutschland eher abstrakte Begriffe pflegt. Demokratie in Westdeutschland ist eher stark repräsentativ, im Osten sehr direkt und nah. Also im Osten: Man wählt einen Menschen in eine Funktion, damit er eine bestimmte Idee oder eine konkrete Richtung umsetzt, wenn das nicht gefällt wird er nicht wieder gewählt und ein anderer kommt – quasi revolutionär gedacht. Im Westen gibt man Leuten eine Chance sich zu bewähren, wählt abstrakte Bilder und hat eine Parteizugehörigkeit im Denken, also nicht so sachorientiert.

Beide haben aber, bei allen Unterschieden, etwas gemeinsam: Sie leben mit mehrfachen Disruptionserfahrungen. Im Osten durch Umverteilung, Vergesellschaftung, Rückenteignung nach der Wende. Auch mehrfache Disruptionserfahrungen – nach dem Krieg die Umverteilung und Vergesellschaftung, Zuweisung von Raum durch Behörden, nach der politischen Wende Rückenteignungen und eventuell sogar Enteignungen durch Zwangssituationen wegen auslaufender Kreditlinien. Im Westen durch Deindustrialisierung, Prekarisierung, Digitalisierung.

Wer mehrfach erlebt hat, dass bestehende Ordnungen über Nacht kollabieren können, entwickelt eine gewisse Skepsis gegenüber den Versprechungen dieser Ordnungen.

Warum sollte man für Strukturen kämpfen, die einen selbst schon mehrfach im Stich gelassen haben?

Paradoxie der leeren Hände

Und doch – hier liegt das eigentliche Rätsel – sind es gerade die Besitzlosen, die sich immer wieder für fremde Interessen verheizen lassen. Das ZDF-Magazin frontal sendete kürzlich eine Reportage über einen deutschen Flottenverband in der Ostsee. Junge Matrosen, die auf ihren Schiffen patrouillieren, während russische Kampfjets ihre Formationen aufklären. Die Seeleute wirkten, wenn man ehrlich ist, maximal unmotiviert.

Kein Feuer in den Augen, keine Entschlossenheit – eher das Aussehen von Leuten, die ihren Job machen, weil sie halt einen Job brauchen.

Was treibt einen bayerischen Matrosen dazu, Deutschland auf See zu verteidigen? Lust auf Abenteuer vielleicht, aber das kann es nicht allein sein. Eine Kaserne auf See unterscheidet sich nicht wesentlich von einer Kaserne an Land – grauer Alltag, Hierarchien, Langeweile. Der Nimbus des romantischen Seefahrerlebens dürfte spätestens nach der ersten Woche verflogen sein. Es bleibt die Bezahlung, die Karrierechancen, die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Das Militär als Arbeitgeber, nicht als Berufung.

Diese ökonomische Funktionalisierung des Kriegsdienstes ist symptomatisch für eine tieferliegende Struktur. Die Bundeswehr rekrutiert nicht mehr primär aus patriotischem Eifer, sondern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Junge Menschen ohne Perspektiven, ohne Besitz, ohne Alternativen werden zu Soldaten – nicht weil sie Deutschland lieben, sondern weil sie Geld brauchen.

Ein zynisches System, das die Besitzlosigkeit seiner Bürger zur Grundlage der eigenen Rekrutierung macht.

Herbert Marcuse würde das als Produktion falscher Bedürfnisse diagnostiziert haben. Das System erzeugt systematisch Mangel und bietet dann militärischen Dienst als scheinbare Lösung an. Der besitzlose Arbeiter entwickelt das Bedürfnis nach beruflicher Sicherheit und findet sie ausgerechnet in einer Institution, die ihn instrumentalisiert. Er glaubt, seine Interessen zu verfolgen, während er in Wahrheit fremde Interessen bedient.

Die repressive Toleranz zeigt sich in der scheinbaren Wahlfreiheit zwischen verschiedenen patriotischen Positionen. Man kann liberal-humanitär argumentieren („Wir verteidigen Menschenrechte“) oder konservativ-realpolitisch („Wir verteidigen unsere Sicherheit“) – alle verfügbaren Optionen führen zum selben Ergebnis: Bereitschaft zum Militärdienst. Alternative Friedensordnungen oder post-militärische Gesellschaftsformen werden nicht nur als unrealistisch, sondern als undenkbar empfunden.

Pierre Bourdieu hätte von der Akkumulation symbolischen Kapitals gesprochen. Der besitzlose Soldat überführt seine wirtschaftliche Schwäche in moralische Stärke. Er mag keinen Grund und Boden besitzen, aber er besitzt Ehre, Pflichtgefühl, Vaterlandsliebe. Dieses symbolische Kapital kompensiert materielle Deprivation – und stabilisiert paradoxerweise die Strukturen, die diesen Entzug hervorbringen. Symbolische Anerkennung ersetzt ökonomische Umverteilung.

Zurück zu den Rosenbüschen

In der Julius-Leber-Kaserne sprach man viel von der Landwirtschaft als kritischer Infrastruktur. GPS-gesteuerte Mähdrescher, resiliente Diesel-Lieferketten, cybersichere Feld-Logistik. Aber eine Frage stellte niemand: Wem gehören eigentlich diese Äcker und Höfe, die da verteidigt werden sollen?

Die deutsche Landwirtschaft durchläuft seit Jahrzehnten einen Konzentrationsprozess. Kleine Familienbetriebe verschwinden, Großbetriebe und Agrarkonzerne übernehmen. Viele Landwirte sind de facto nur noch Pächter auf fremdem Boden oder Subunternehmer multinationaler Konzerne. Sie bewirtschaften Land, das ihnen nicht gehört, mit Maschinen, die sie nicht besitzen, für Märkte, die sie nicht kontrollieren.

Auch sie haben, streng genommen, wenig zu verlieren.

Die moderne Junker-Klasse sind nicht mehr Gutsbesitzer mit Stammbaum, sondern Investmentfonds und Agrarindustrie-Konzerne. Diese besitzen tatsächlich etwas: Kapital, Produktionsmittel, Marktanteile. Für sie lohnt sich Verteidigung, weil sie etwas zu verteidigen haben.

Patrick Pehl im Büro von Oberst i. G. Schaus von der zivil-militärischen Zusammenarbeit
Das Büro ist typisch zweckmäßig. Der Einblick an diesem Tag reicht aber über das bloße Schauen hinaus. © Max Hartmann 2025

Aber sie selbst werden nicht an der Front stehen – das überlassen sie anderen.

Es ist ein Desiderat der deutschen Sicherheitspolitik, dass diese Eigentumsfrage nicht offen diskutiert wird. Stattdessen wird von unserer Landwirtschaft, unserem Land, unserer Sicherheit gesprochen – als ob die Besitzverhältnisse egal wären. Als ob es keinen Unterschied machte, ob man für den eigenen Rosengarten oder für die Rendite fremder Aktionäre kämpft.

Mark Fisher hat den kapitalistischen Realismus als die Unfähigkeit beschrieben, sich gesellschaftliche Alternativen überhaupt vorstellen zu können. Diese kognitive Beschränkung macht militärische Notwendigkeiten zu naturgegebenen Konstanten. Krieg wird nicht aus Überzeugung unterstützt, sondern aus reflexiver Ohnmacht – als scheinbar einzige verfügbare Option in einer alternativlosen Welt.

Die von Fisher analysierte Depression als politisches Phänomen korreliert direkt mit militärischer Mobilisierbarkeit. Subjekte, die ihre gesellschaftliche Situation als persönliches Versagen internalisieren, suchen Kompensation in der Identifikation mit „größeren“ Projekten. Der Krieg bietet temporäre Flucht aus der depressiven Vereinzelung durch kollektive Sinnstiftung.

Man mag als Individuum gescheitert sein, aber als Teil der deutschen Verteidigung wird man wieder bedeutsam.

Die Mobilitätsfalle

Zurück zu meiner eigenen Situation: Ich kann weg, also würde ich weggehen. Spanien, Italien, notfalls Österreich – Hauptsache raus aus der Gefahrenzone. Aber ist diese Mobilität nicht selbst ein Privileg? Der osteuropäische LKW-Fahrer, der durch deutsche Autobahnen fährt, hat ähnliche Möglichkeiten. Als EU-Bürger kann er sich niederlassen, wo er will.

Aber was ist mit dem Schreiner aus Spanien, der gerade seinen Aufenthaltstitel bekommen hat? Oder dem LKW-Fahrer aus Rumänien, dessen Familie seit Generationen in derselben Region verwurzelt ist?

Mobilität wird zur neuen Klassenscheide. Die Oberschicht ist global mobil, kann bei Krisen zwischen Kontinenten wechseln. Die Mittelschicht ist regional mobil, kann immerhin innerhalb Europas ausweichen. Die Unterschicht ist lokal gefangen, hat keine Mittel zur Flucht und muss bleiben, wo sie ist. Ironischerweise sind es gerade die Immobilen, die dann als patriotisch gefeiert werden, während die Mobilen als Verräter gelten.

Diese Struktur ist nicht zufällig entstanden. Sie ist das Ergebnis einer Politik, die Besitzverhältnisse polarisiert und Bürger in unterschiedliche Mobilitätsklassen sortiert. Wer beweglich ist, braucht keinen Krieg zu fürchten. Wer festsitzt, muss kämpfen oder untergehen.

Ein perfektes System zur Rekrutierung von Soldaten aus der immobilen Unterschicht.

Was sich ändern muss

Die Antwort ist so einfach wie politisch unmöglich: Ohne Teilhabe keine Teilnahme. Ohne echte Besitzverhältnisse keine echte Verteidigungsbereitschaft. Solange große Teile der Bevölkerung nur ihre Arbeitskraft besitzen, aber kein Eigentum an Produktionsmitteln, bleibt Verteidigung eine abstrakte Zumutung.

Das bedeutet nicht, dass jeder einen Bauernhof besitzen müsste. Aber es bedeutet, dass Menschen einen materiellen Anteil an dem haben müssten, was verteidigt werden soll. Mitarbeiterbeteiligungen, Genossenschaftsmodelle, dezentralisierter Besitz – es gäbe durchaus Möglichkeiten, Eigentum breiter zu streuen.

Die Frage ist nur, ob die gegenwärtigen Eigentümer bereit wären, Anteile abzugeben.

Wahrscheinlich nicht. Also wird es bei der derzeitigen Lösung bleiben: Die Besitzlosen kämpfen für fremden Besitz, während die Besitzenden die Profite einstreichen. Ein altbewährtes System, das schon zu Zeiten der Junker funktionierte – und heute noch genauso funktioniert.

Was die intrikate Beziehung zwischen Besitz und Verteidigungsbereitschaft angeht, lässt sich kaum eine andere Schlussfolgerung deduzieren.

Dieser Text wurde am 14. August 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.