Brecht im Berliner Ensemble

Kollektiv-Dialektik: „Mann ist Mann“ im Berliner Ensemble

Das Berliner Ensemble zeigt Bertolt Brechts “Mann ist Mann” in einer neuen Inszenierung. Das Stück, das die Formbarkeit der menschlichen Identität durch gesellschaftliche Kräfte beleuchtet, wird von einem starken Ensemble aus Schülern der Ernst-Busch-Schule in Weißensee getragen. Diese zeitgemäße Aufführung zeigt die Austauschbarkeit des Individuums in einer maschinell-lernenden Welt. Eine schnelle Reflexion am Abend der Vorstellung.

In einer Ära zunehmender Individualisierung hält uns Bertolt Brechts “Mann ist Mann” auch fast 100 Jahre nach seiner Erstaufführung einen Spiegel vor, der die Austauschbarkeit unserer Identitäten reflektiert. Das Stück, oberflächlich die Geschichte von Galy Gay, der morgens einen kleinen Fisch kaufen will, mittags einen großen Elefanten hat und abends Angehöriger der Streitkräfte ist, bietet ein abstraktes Abbild unserer Formbarkeit durch gesellschaftliche Kräfte. Es wird derzeit im Werkraum des Schiffbauerdamm-Theaters, im Berliner Ensemble, von Schülern der Ernst-Busch-Schauspielschule in Weißensee aufgeführt. Die jungen Schauspieler brillieren in ihrer Aufführung so sehr, dass mir nicht klar war, ob die Kälteschauer durch die Klimaanlage induziert sind oder durch die Szenen. Besonders sind mir Joana Damberg und Nele Trebs in ihren Rollenausgestaltungen aufgefallen.

Austauschbarkeit im Prisma

Brechts Protagonist Galy Gay, brillant verkörpert von Nele Trebs als verängstigten, bestimmten und zeitweise folgsamen Charakter, demonstriert paradigmatisch die Formbarkeit des Individuums durch kollektive Kräfte. Eine simple Blechmarke mit einer Nummer darauf verwandelt einen Packer in einen Soldaten – eine Metamorphose, die uns an die Macht offizieller Dokumente in unserer eigenen Realität erinnert, wo ein Pass zum Ausdruck der Individualität eines Menschen wird. Seine Frage nach Determinismus ist beeindruckend und vermutlich weckt sie in jedem von uns etwas, was ein jeder schon ein mal gedacht hat: „Wäre ich ein anderer, wäre ich an einem andern Tag geboren. In der Szene fragt Galy Gay “Ich bin an einem bestimmten Tag herausgekommen, meine Mutter hat es bezeugt und mir meinen Namen gegeben. Wäre ich ein Jahr früher geboren – wäre ich ein anderer Mann?“

Fordismus und die Mechanisierung des Menschlichen

Die Kritik am Fordismus, jenem System der standardisierten Massenproduktion, das den Menschen zur austauschbaren Komponente degradiert, manifestiert sich in Brechts Darstellung der Armee. Der Maschinengewehr-Trupp, zur Entstehungszeit des Stücks der Inbegriff mechanisierter Unmenschlichkeit, verkörpert gleichzeitig die ultimative Austauschbarkeit des Individuums. Diese Dualität von Mechanisierung und Entmenschlichung hallt in unserer postindustriellen Gesellschaft nach, wo Algorithmen und maschinelles Lernen zunehmend menschliche Funktionen übernehmen.

Paradoxon der Identität

Galy Gays surreale Situation, in der er seine eigene Totenrede hält und nicht mehr weiß, ob er nun im Sarg liegt, der ihm eine “Berechtigung im Massengrab” gibt, oder ob er ein freundlicher Ehemann ist, dessen Frau mit dem Fischwasser wartet, illustriert das Paradoxon der Identität in einer Welt, die von Kollektiven geformt wird. Diese Szene, gepaart mit der herausragenden Darstellung von Joana Damberg als Soldat Uria Shelly, unterstreicht die Fragilität und Fluidität persönlicher Identität.

Typisch für Brecht nutzt das Stück Elemente des Klamauks, um ein ernstes Thema zu vermitteln. Das “Beefsteak” und die komödiantischen Elemente erlauben es dem Publikum, einen scheinbar unbedarften Abend zu verleben, während sie gleichzeitig mit tiefgreifenden Fragen zur menschlichen Existenz konfrontiert werden. Diese Strategie erinnert an Arthur Millers “Tod eines Handlungsreisenden”, der ebenfalls die Austauschbarkeit des Menschen in der modernen Gesellschaft thematisiert.

Kollektiv neu denken

In einer Zeit, in der der Individualismus zur Ideologie erhoben wurde, fordert uns “Mann ist Mann” heraus, das Kollektiv neu zu denken. Nicht als Antipode zur individuellen Freiheit, sondern als deren Voraussetzung und Garant. Das Stück erinnert uns daran, dass wir als Menschen nur in der Gemeinschaft wirklich zu uns selbst finden können – eine Erkenntnis, die in unserer fragmentierten Gegenwart aktueller ist denn je.

Während der Zug der Soldaten in Richtung Grenze rollt, stellt sich unweigerlich die Frage: Welche Rolle kann der Mensch in einer rationalisierten und von maschinellem Lernen überwältigten Umwelt spielen? Brechts zeitloses Werk mahnt uns, wachsam zu bleiben gegenüber den Kräften, die unsere Identitäten formen und verformen, sei es durch kollektive Strukturen oder technologischen Fortschritt.

In einer Welt, in der Identitäten so flüssig sind wie das Fischwasser, das Galy Gays Frau bereithält, bleibt “Mann ist Mann” ein kraftvoller Aufruf, die Dialektik zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen persönlicher Autonomie und gesellschaftlicher Einbindung, stets neu zu verhandeln.