SPD-Regierungspolitik

Seeheimer-Chef will Pragmatismus

Seeheimer-Chef will Pragmatismus

Esra Limbacher (SPD) führt seit September den einflussreichen Seeheimer Kreis. Der neue SPD-Fraktionsvize für Wirtschaft und Klimaschutz will in der Großen Koalition Gemeinsamkeiten betonen – und die Landwirtschaft aus der politischen Randlage holen.

Die Arbeitsräume im Jakob-Kaiser-Haus sind noch provisorisch eingerichtet. Alte SPD-Plakate hängen an den Wänden: Willy Brandt mit Mandoline, Helmut Schmidt ohne Zigarette. Die eigentlich vorgesehene Kunst aus den Beständen des Bundestages wurde erst am Vortag ausgewählt. Das zackige SPD-Logo wiederholt sich auf einem Kissen, hinter einer Zimmerpflanze, auf einem hölzernen Klappstuhl – jenem ikonischen Objekt, das seit Jahrzehnten zu Seeheimer Veranstaltungen gehört. Esra Limbacher ist noch nicht lange hier, aber er hat sich eingerichtet. Im September konnte ich Limbacher in seinen Büroräumen treffen und mit ihm über seine neue Rolle sprechen.

Patrick Pehl und Seeheimer-Sprecher Esra Limbacher (SPD) im Gespräch.
Am 19. September 2025 konnte ich den Seeheimer-Sprecher Limbacher in seinen Büroräumen im Jakob-Kaiser-Haustreffen. © Max Hartmann 2025

Der 1989 in Wiesbaden zur Welt gekommene Jurist wurde am 8. September mit 92 Ja-Stimmen zum Sprecher des Seeheimer Kreises gewählt. Seit Mai ist er stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD, zuständig für Wirtschaft, Bau, Umwelt und Klimaschutz. Zusätzlich fungiert er als Mittelstandsbeauftragter der Fraktion. Als er an diesem Nachmittag von einer namentlichen Abstimmung im Reichstag zurückkehrt – es ging um den laufenden Etat des Kanzleramtes –, ist die Begrüßung freundlich, aber ohne überflüssige Gesten. Limbacher hat seinen jungen Fachreferenten dabei. Man merkt: Hier wird Politik als Handwerk verstanden, nicht als Inszenierung.

Fortschrittliche Volkspartei der Mitte

Die Seeheimer gelten als pragmatischer Flügel der SPD, als Vertreter einer sozialdemokratischen Realpolitik, die sich nicht in ideologischen Debatten verliert. Limbacher bestätigt diese Selbstbeschreibung ohne Umschweife. „Der Seeheimer Kreis tritt für eine SPD ein, die eine fortschrittliche Volkspartei der Mitte sein will“, sagt er. Das bedeute einen pragmatischen Kurs, der „vor allen Dingen auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit denen setzt, die dieses Land voranbringen wollen“. Bereits im Frühjahr hatte er als Mittelstandsbeauftragter konkrete Forderungen formuliert: Investitionsprämien zur Stärkung von „Made in Germany“, Bundeszuschüsse zur Senkung der Energiepreise, entschiedener Bürokratieabbau für mittelständische Unternehmen. Unter seiner Führung wollen die Seeheimer mit „klarer Sprache, offener Debatte und dem Anspruch, Lösungen zu liefern für wirtschaftliche Erneuerung, verlässliche Zusammenarbeit in der Koalition und sozialen Zusammenhalt“ auftreten. In der aktuellen Großen Koalition mit der Union heißt das: Gemeinsamkeiten betonen, nicht das Trennende.

Der Start sei „etwas holprig“ gewesen, gibt Limbacher zu. Doch nun sei es die Verantwortung beider Koalitionspartner, die Gemeinsamkeiten nach vorne zu stellen. „Wir haben den Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU unterschrieben, und es ist mein fester Wille, dass wir gemeinsam hier etwas bewegen können.“ Diese Haltung ist typisch für die Seeheimer: keine lautstarke Opposition innerhalb der eigenen Reihen, sondern Gestaltungswille innerhalb bestehender Strukturen.

Wirtschaft nicht stiefmütterlich behandeln

Dass Limbacher ein breites Ressort übernommen hat, war keine Selbstverständlichkeit. Er kommt nicht aus einem Fachressort, sondern aus der Bundespolitik. Doch er nimmt die Aufgabe ernst – und das bedeutet für ihn vor allem eines: Themen nicht länger stiefmütterlich zu behandeln, die für die wirtschaftliche Zukunft des Landes entscheidend sind. Die Zusammenarbeit mit den Fachsprechern der Fraktion läuft nach eigener Auskunft sehr gut. Es ist eine typische Seeheimer-Haltung: pragmatisch, kollegial, ohne Eitelkeit.

Koalitionstreue mit klaren Grenzen

Die Holzklappstühle sind typisch für Veranstaltungen der Seeheimer. In Berlin sind die ikonischen Objekte bekannt – vielleicht schon seit den 70ern.
Die Holzklappstühle sind typisch für Veranstaltungen der Seeheimer. In Berlin sind die ikonischen Objekte bekannt – vielleicht schon seit den 70ern. © Max Hartmann 2025

Beim Thema Mindestlohn zeigt sich, wo die Grenzen des Pragmatismus liegen. Limbachers Vorgänger als Seeheimer-Chef, Dirk Wiese, hatte sich beim Deutschen Raiffeisenverband zu möglichen Ausnahmen beim Mindestlohn in der Landwirtschaft geäußert. Limbacher stellt klar: „Ich halte nichts davon, dass wir eine Zweiklassen-Kultur im Mindestlohn-Bereich einführen. Das ist nicht unser Ziel, auf keinen Fall das Ziel der Sozialdemokratie.“ Gleichzeitig betont er, dass diese Politik von Kompromissen lebe. Der Koalitionsvertrag sei ein solcher Kompromiss, und jede Partei habe ihre eigene Haltung zu bestimmten Themen.

Es ist diese Balance, die Limbacher als Seeheimer-Sprecher verkörpern will: einerseits die sozialdemokratischen Grundsätze nicht aufgeben, andererseits in der Koalition handlungsfähig bleiben. „In so einer schwierigen Situation, wie wir uns jetzt momentan in Deutschland befinden, vor allem wirtschaftlich, können wir es nicht zulassen, dass wir nur über trennende Punkte diskutieren“, sagt er.

Staat als Ermöglicher, nicht als Hemmschuh

Sein wirtschaftspolitisches Profil zeigt sich auch an anderer Stelle. In Bundestagsdebatten plädiert Limbacher für ein Gleichgewicht aus nachhaltigen Investitionen und Standortschutz, notfalls auch durch eine Flexibilisierung der Schuldenregel. Bei der Steuerpolitik setzt er auf Entlastung mittlerer Einkommen, während Spitzenverdiener einen „gerechtfertigten Aufschlag“ zahlen sollten – eine sozialdemokratische Umverteilung, die Transformationsaufgaben finanzierbar macht. Klimapolitik will er nicht zur Standortabwanderung führen lassen: Ein unbürokratischer CO₂-Grenzausgleich soll die Industrie schützen, während private Haushalte durch ein Klimageld sozial abgefedert werden. Die Energiewende begreift er nicht als Belastung, sondern als Chance für Arbeitsplätze und Wachstum – vorausgesetzt, der Staat agiere als Ermöglicher, nicht als Hemmschuh.

Erfolg ist keine Selbstverständlichkeit

Diese Positionen machen deutlich, wofür die Seeheimer unter Limbacher stehen wollen: für eine SPD, die wirtschaftliche Vernunft mit sozialem Ausgleich verbindet. Ein Schrumpfen der industriellen Wertschöpfung lehnt er explizit ab – das sei eine Gefahr für den Wohlstand Deutschlands. Die Seeheimer setzen auf Innovation, auf Transformation, aber eben auch auf Standortsicherung. Es ist ein Politikansatz, der sich bewusst von jenen Kräften in der SPD abgrenzt, die wirtschaftspolitische Fragen primär unter ökologischen oder verteilungspolitischen Gesichtspunkten diskutieren wollen.

Die SPD befindet sich in einer Phase, in der die Frage nach ihrer Zukunft als Volkspartei täglich neu gestellt wird. Es ist, als müsse eine Vakanz gefüllt werden, die noch nicht einmal offiziell ausgerufen wurde. Die Seeheimer setzen darauf, dass pragmatische Politik und Gestaltungswille am Ende überzeugen. Limbacher verkörpert diesen Anspruch: kein Protest, keine lauten Forderungen, sondern Arbeit an Lösungen. Ob das ausreicht, wird sich zeigen. Die Plakate mit Brandt und Schmidt an der Wand erinnern daran, dass die SPD schon schwierigere Zeiten überstanden hat – allerdings auch daran, dass Erfolg keine Selbstverständlichkeit ist.

Als Limbacher zum nächsten Termin aufbricht, bleibt der Eindruck eines Politikers, der seine Rolle angenommen hat, ohne sich zu überhöhen. Die Seeheimer setzen auf die kleinen Schritte, auf Kontinuität, auf das Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit. In einer Zeit, in der viele nach großen Gesten rufen, ist das vielleicht schon eine Position. Die Frage ist nur, ob diese Position ausreicht, um in der Koalition Gestaltungsmacht zu entfalten – oder ob der Pragmatismus der Seeheimer am Ende als Anpassung gelesen wird. Limbacher jedenfalls scheint entschlossen, den ersten Weg zu gehen.

Das Treffen fand am 19. September 2025 in Berlin in meiner Funktion als Politik-Korrespondent der dfv Mediengruppe statt.

Dieser Text wurde am 26. September 2025 in Berlin veröffentlicht.
Patrick Pehl
Profilbild von Patrick Pehl
Patrick Pehl spielte eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Berateraffäre im Bundestag, insbesondere als führender Chronist des Untersuchungsausschusses. Als freier Journalist begleitete er den Ausschuss intensiv und berichtete umfassend über jede Sitzung. Pehl ist bekannt für seine detaillierte Parlamentsberichterstattung und hat sich den Spitznamen "Mister PUA" (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss) verdient. Er initiierte auch einen Podcast zur Berateraffäre, in dem er die Entwicklungen des Ausschusses einem breiteren Publikum zugänglich macht. Seine Arbeit erfordert ein tiefes Verständnis der politischen Strukturen, das er durch jahrelange Erfahrung erlangt hat.