T.
LOREM
Während der Zeit der leisen Straßen, als die Fenster der vielen Wohnungen verhangen sind, streift er sich das Jackett über. Die Büros haben sich gerade erst geleert, die letzte Straßenbahn des Berufsverkehrs ist verklungen. Er bückt sich zu seinen Schnürschuhen, zieht die dünnen, runden Senkel etwas fester als gewöhnlich. Die braunen Bänder gleiten durch die Metallösen, ihre gewachste Oberfläche glänzt matt im Flurlicht.
Der Trenchcoat fällt schwer übers blaue Piqué-Hemd. Der matte, feste Stoff schmiegt sich warm an seine Haut, der Haifischkragen liegt fast heraus fordernd um den Hals des Trägers. Seine Finger gleiten über den weißen Schal, diesen letzten Schutz gegen die meteorologische Kälte. Ihre Nachricht: „Hey, das Meeting dauert noch ein bisschen. Ich bin noch in der VTC mit meinem Kollegen, aber später ist gut. Ich freue mich.“ Im Flur wirft die moderne Ikonographie im schwarzen Holzrahmen einen goldenen Schimmer an die Wand – ein letzter vertrauter Anblick, bevor er die Tür einfach hinter sich zuziehen wird.
Seit Jahren hat er dieses feine Gewebe in sich gewebt, Masche um Masche, ein schützendes Netz gegen zu tiefe Berührungen. Ein unsichtbares Kunstwerk aus Vorsicht und Zurückhaltung, dessen Struktur nur er kennt – oder zu kennen glaubt.
Die Treppe hinunter, durch den Hausflur, dessen nackte Stufen jeden seiner Schritte in harten Echos zurückwerfen, als würde das Gebäude seine Bewegungen kommentieren. Die breite Straße öffnet sich vor ihm wie ein grauer Fluss aus Beton – eine Schneise der Geschichte, auf der einst Staatsfeierlichkeiten die Orden klimpern ließen wie metallene Palettenkleider. Die monumentalen Bauten zu beiden Seiten tragen ihre mostrichgelbe bis mostrichbraune Farbe wie eine verblassende Erinnerung, die in der Dämmerung des beginnenden Abends zusehends gräulicher wird. Ein kühler Wind streicht zwischen den Fassaden hindurch, trägt den Geruch von nassem Asphalt und den metallischen Geschmack der Stadt mit sich. Vereinzelte Fahrzeuge gleiten noch ohne Licht über den Asphalt, graue Schatten in der Dämmerung. Zwischen den Platten des Gehwegs sprießt vereinzelt Gras, als wollte die Natur die Spuren jener Paraden verwischen, bei denen schwere Räder den Asphalt zum Beben brachten. Die majestätische Breite der Straße zeugt noch immer von ihrer früheren Bestimmung als Bühne der Macht.
Transluzente Vorhänge aus schwerem Brokat wechseln sich ab mit improvisierter Verdunkelung. Manche Fenster sind mit Plastikfolien beklebt, andere mit venezianischen Stores verhüllt, die im Luftzug vibrieren. Zwischen den geschlossenen Fenstern finden sich vereinzelt offene, aus denen gedämpfte Musik dringt, Gesprächsfetzen, das Klirren von Geschirr – Momente privater Existenz. Das Licht bricht sich in tausend Nuancen durch diese unterschiedlichen Membranen – ein urbanes Kaleidoskop der Isolation.
Sein Smartphone vibriert in einem anderen Rhythmus – die spezifische Sequenz für Arbeitsanrufe. Der kleine Schalter an der Seite ist nach hinten gekippt, dämpft jeden möglichen Klingelton. Die weißen Ohrstöpsel verbinden sich lautlos, kapseln ihn ab von der Stadtlandschaft, von den breiten Straßen und ihrer Weite. Seine Stimme wird augenblicklich präzise, geschäftsmäßig. Stehen statt Bewegung. Ja, die Zahlen für das vierte Quartal. Natürlich. Der Break-Even liegt bei…“ Währenddessen gleitet sein Blick mechanisch über Tabellen, die nur in seinem Kopf existieren. Die Worte fallen kühl und berechnend, jede Emotion wegkalibriert wie in einem Laboratorium. Ein kurzer Druck auf das schmale Stäbchen am Ohr, in dem das Mikrofon verborgen ist, beendet den Anruf.
Da ist sie wieder, die Stadt mit ihren Abgasen und den Gerüchen von Reifenabrieb und Staub. Die hohen Wohnhäuser aus der Zeit seiner Großeltern schlingen sich um die Straße und den ovalen Platz, um den die Autos fließen. Seine Gedanken kehren zurück zu ihr, zu diesem Abend, der vor ihm liegt wie ein noch unbeschriebenes Blatt.
Der leuchtende Laden
An der Straßenecke leuchtet der Laden zwischen den Häuserfronten, seine hohen Schaufenster sind mit einer alten gelben Folie fast bis oben hin beklebt. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos sind nun fast alle eingeschaltet, werfen ihre Lichtkegel über den feuchten Asphalt. Die halbstündige Wanderung durch die dämmernde Stadt hat ihn hierher geführt. Zwischen den eng gestellten Metallregalen drängen sich noch vereinzelt Menschen, Feierabendmüdigkeit in den Gesichtern. Die schmalen Gänge zwingen zu einem vorsichtigen Tanz des Ausweichens. Energiesparlampen werfen ihr charakteristisches Licht auf weiße Preisschildchen, die sich wie Meeresinseln von den abgenutzten Blechregalen abheben.
Die Weinabteilung verbirgt sich in der hintersten Ecke. Barolo oder Bardolino? Seine Hand verharrt zwischen den Flaschen. Der Barolo fühlt sich schwerer an. Oder täuscht das? Das vergilbte Etikett mit seiner eleganten Serifenschrift verspricht – ja was eigentlich? Das Glas ist kühl an seiner Handfläche, das raue Papier des Etiketts dagegen seltsam warm. Als hätte die Flasche die Wärme des Tages gespeichert. Oder die des Ladens. Die Energiesparlampen surren leise.
„Bis gleich. Freu mich.“ – die Nachricht scheint zu förmlich, kaum dass er sie abgeschickt hat. Ihre Antwort kommt Minuten später, ein einzelnes Emoji, dessen Zweideutigkeit ihn zwischen den Häuserschluchten schmunzeln lässt. Sie beherrscht diese Form der Kommunikation mit einer Präzision, die ihn manchmal erschreckt. Er weiß, was der Abend bringen wird – sie beide wissen es, haben es nie ausgesprochen und doch bei jedem Treffen neu vereinbart.
Die Kopfsteinpflaster unter seinen Sohlen aus robustem, der Stadt angepasstem Kunststoff bringen jeden Schritt in den abendlichen Rhythmus. Die Straßenbahnschienen durchschneiden das Pflaster wie alu-silberne Adern, still jetzt, aber nicht verlassen. Auf den Bürgersteigen und Transferstraßen bewegen sich noch Menschen, gedämpfter als tagsüber, aber mit der typischen Geschäftigkeit der Hauptstadt. In der schmaler werdenden Straße parken Autos zu beiden Seiten, ihre Karosserien glänzen matt im sonnenroten Laternenlicht.
Er kennt diesen Teil der Stadt, oder bildet sich ein, ihn zu kennen – die Art, wie sich die Häuser aneinanderschmiegen, als suchten sie Wärme beieinander. Beiger Putz bröckelt hier und da von den Fassaden, erzählt von Jahren und Leben dahinter. Ein matter Schein fällt aus den Fenstern des vierten Stocks eines Altbaus. Ihre Wohnung – oder vielmehr dieser Raum, den sie sich für Momente wie diese geschaffen hat, mit der gleichen kontrollierten Sorgfalt, mit der sie alles in ihrem Leben zu ordnen scheint.
Die Kälte kriecht unter seinen Trenchcoat, während er die letzten Meter zurücklegt. Das Piqué-Hemd unter dem Jackett bewegt sich mit seinem Atem, der in der Winterluft kristallisiert. Er spürt, wie sich sein selbstgewebtes Schutznetz anspannt – nicht aus Nervosität, eher in Erwartung dessen, was sie beide in der Dunkelheit dieser arrangierten Stunden finden werden. Zwei Erwachsene in einer Stadt voller verhangener Fenster, die verstanden haben, dass Begehren keine Rechtfertigung braucht – in einer Zeit, die ohnehin alle Regeln neu schreibt.
Ankunft vorm Ankommen
Seine Schritte verlieren sich im gedämpften Teppich des Treppenhauses, werden verschluckt von der kontrollierten Stille dieses anderen Ortes. Die Tür zum Hof fällt mit dem charakteristischen stöhnen einer stark gespannten Feder donnernd ins Schloss. Das gedämpfte Geräusch seiner Bewegungen vermischt sich mit der warmen Luft des Flurs, als er vor ihrer Tür im pastellgrün lackierten Rahmen steht.
Sie ist kleiner als er hat, ihre zierliche Gestalt knapp an seiner Schulter, doch ihre Präsenz füllt den schmalen Korridor. Ihr durchtrainierter Körper bewegt sich mit der Selbstverständlichkeit jener, die ihr Leben selbstständig verbringen, während ihre schlanken Beine zielsicher und präzise unter der eng anliegenden Hose abgezeichnet sind. Ihre Haut – diese makellose Leinwand vitaler Existenz, die sich über ihre trainierten Muskeln spannt wie feinster Seidenchiffon – schimmert im gedämpften Licht des Flurs, als hätte jemand von innen eine Lampe entzündet, wobei die weißen, fast porzellanhaften Partien ihrer Arme und des Dekolletés eine Geschichte von Yogastunden im Morgengrauen erzählen, von grünen Smoothies und präzise dosierten Vitaminen, was sich in dieser seltsamen Mischung aus matter Glätte und durchscheinender Lebendigkeit verfestigen, die er – seit wann eigentlich? – mit ihr verbindet.
Er beobachtet ihre präzisen Bewegungen, die Art wie sie den Korridor beherrscht, während er sich seiner unmerklich wachsenden Verletzlichkeit bewusst wird – eine Asymmetrie, die sie vermutlich nicht einmal bemerkt. Ihre Augen, in denen sich Lebensfreude mit den feinen Linien gelebter Momente verbindet, während sich um ihre Mundwinkel Spuren von Entschlossenheit und gelebter Intensität abzeichnen. Ihre schmalen Lippen, weich auf der Oberfläche, aber mit der Fähigkeit, Bestimmtheit und Spannung zu erzeugen, formen sich zu einem kontrollierten Lächeln.
Diese Wohnung ist nicht so wie sie für ihre Position und den Stand in ihrem Leben erwartbar wäre. Warum ist es eine solch kleine Wohnung, eine Wohnung, die eher einer Zweitwohnung gleicht? Die Bilder an den weißen Wänden scheinen sich in ihrer Vorläufigkeit eingerichtet zu haben. Genau wie sie sich beide in dieser Konstellation eingerichtet haben – Menschen in einer Stadt ohne Konsequenzen. Menschen mit Bedürfnissen und Verlangen.
Sie macht diesen einen Schritt. Wie immer. Die Umarmung hat ihre eigene Choreographie – vertraut inzwischen, die Hüften wahren ihren vereinbarten Abstand. Dann ihre Fingerspitzen an seiner Schulter, scheinbar zufällig dort, wo sein gewobenes Netz am dünnsten ist. Eine Berührung nur, die sein sorgsam geschütztes Inneres zerreißt, ohne dass sie es ahnt. Wie in jener alten Geschichte vom drachenblutgehärteten Helden, dessen einzige verwundbare Stelle sein Schicksal besiegelte – dort, wo das fallende Lindenblatt den schützenden Überzug verhinderte. Diese eine Schwachstelle, die er seit Jahren zu schützen versucht, die sich aber seiner Kontrolle entzieht, findet sie mit unfehlbarer Präzision. Seine sorgsam gesponnene Rüstung, ein Schild aus feinstem Draht, undurchdringlich an tausend anderen Stellen, wird bedeutungslos durch ihre unbewusste Berührung genau an diesem Punkt.