Der Bundestag baut einen Burggraben | Patrick Pehl

Der Bundestag baut einen Burggraben

Im Zentrum Berlins erhebt sich das Reichstagsgebäude, Sitz des Deutschen Bundestages, als Manifestation demokratischer Transparenz. Seine gläserne Kuppel, weithin sichtbar, verkörpert den Anspruch auf Offenheit und Zugänglichkeit. Das Gebäude, dem Volk gewidmet, lädt zum Umrunden, Berühren und Betreten ein.

Doch ein kontradiktorisches Schauspiel entfaltet sich gegenwärtig: Inmitten dieses Symbols der Bürgernähe entsteht ein anachronistisches Bauwerk – ein Burggraben um das Parlament. Dieser „Aha-Graben”, [sieben Meter breit und zwei Meter tief](\1), ausgestattet mit Spundwänden und Überwachungstechnik, fügt sich als Fremdkörper in die etablierte Struktur des Regierungsviertels ein. Er steht im Widerspruch zur proklamierten Offenheit des Parlaments, das sich sonst als nahbares Haus präsentiert.

Wenn Beton zu Leinwand wird

Das Umfeld des Reichstags pulsiert vor Leben. An warmen Abenden verwandelt sich das Ufer in eine improvisierte Tanzfläche. Vor dem Paul-Löbe-Haus, oft als “Motor der Republik” bezeichnet, treffen sich Menschen zum Flanieren und Diskutieren. Neben der Parlamentarischen Gesellschaft erstrahlen zum Tag der Deutschen Einheit die Gebäude in bunten Illuminationen.

Unterirdisch setzt sich diese Dynamik fort. Am U-Bahnhof Bundestag, einst Zeuge historischer Ereignisse, strömen täglich Abgeordnete, Mitarbeiter und Besucher ein und aus. Vor sechs Dekaden zogen die Arbeiter der Stalinallee hier her, während der Reichstag noch im Niemandsland stand – ein Zeugnis deutscher Teilung.

Die Errichtung des Grabens sendet ein problematisches Signal: Die politische Macht zieht sich zurück, verschanzt sich hinter Barrieren, statt den Dialog zu suchen. Dabei lebt eine Demokratie vom Austausch zwischen Bürgern und Volksvertretern. Der Graben erscheint wie ein Rückschritt, eine Kapitulation vor diffusen Bedrohungen.

Risse im republikanischen Fundament?

Der Graben ist ein anachronistisches Projekt, das mehr Fragen aufwirft als es Antworten gibt. Soll er die Demokratie schützen oder sie isolieren? “Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht. Und man sieht die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht”, meint Brecht in einem meiner Lieblingsstücke, der Dreigroschenoper. Zweifellos benötigt auch ein offenes Parlament Sicherheitsmaßnahmen. Diese ließen sich jedoch mit weniger einschneidenden Mitteln realisieren als mit einem mittelalterlich anmutenden Verteidigungsgraben. Statt sich abzuschotten, sollte der Bundestag seine bisherigen Stärken – Transparenz und Bürgernähe – weiter ausbauen.

In dieser Entwicklung offenbart sich ein zeitgenössischer Widerspruch: Während man Offenheit proklamiert, errichtet man Barrieren. Das Volk, dem dieses Haus gewidmet ist, sieht sich mit einem neuen Hindernis konfrontiert. Diese Veränderung stellt das Fundament der Beziehung zwischen Volk und Volksvertretung infrage. Im Sommer treffen sich Gruppen zum Tanz am Reichstagufer an der Spree, direkt am Paul-Löbe-Haus – lediglich einige Millimeter Glas trennen die feiernden Gruppen vom Innern des Hauses, das wegen seiner Gestaltung in der Form eines V8-Motors als Motor der Republik bezeichnet wird.

Tanz am Fuß der Macht

Der Reichstag steht an der Schwelle zu einer neuen Ära. Der gläserne Koloss, einst Sinnbild der Zugänglichkeit, umgibt sich mit einem Graben. Es bleibt abzuwarten, wie die Öffentlichkeit auf diese Metamorphose reagieren wird. Die Geschichte wird zeigen, ob dieser Graben die Kluft zwischen Regierenden und Regierten vertieft oder ob er, wie von seinen Planern postuliert, lediglich ein weiteres architektonisches Element in der sich stetig wandelnden Landschaft der Berliner Republik sein wird.

In diesem Kontext gewinnt Brechts Zeile aus der Dreigroschenoper neue Relevanz: “Und der Haifisch, der hat Zähne”. Hier sind es die Zähne der Demokratie, die sich dem Bürger präsentieren – greifbar, aber zunehmend durch Barrieren geschützt. Der Graben, in seiner apriorischen Funktion als Sicherheitsmaßnahme konzipiert, könnte sich als Katalysator für eine tiefergehende gesellschaftliche Reflexion erweisen. Er verkörpert die Dichotomie zwischen [Sicherheitsbedürfnis und demokratischer Offenheit](\1), zwischen physischer Abgrenzung und ideeller Zugänglichkeit.

In seiner Quintessenz bleibt der Reichstag ein Ort der Antinomien: Ein Gebäude, das Transparenz symbolisiert, umgeben von einem Graben, der Distanz schafft. Es ist ein architektonisches Oxymoron, das die komplexen Herausforderungen moderner Demokratien verkörpert.