Deutschland muss sich nach der Wahl neu verhandeln. Über 60 Millionen Deutsche im Staat waren aufgerufen, nicht nur Abgeordnete zu wählen. Die Bundestagswahl war der Passierschein für eine grundlegende Neuausrichtung des Staatswesens.
Die Beziehungen in Staatsverschuldung, Finanzarchitektur, Infrastrukturaufgaben, Regelung des Verhältnisses von Bund und Ländern sowie das Verhältnis zur EU und deren Außen- und Handelspolitik müssen geklärt werden. Die Illusion von Merkels Alternativlosigkeit ist zerbrochen. Der Kitt vergangener Koalitionen, das einst reichlich vorhandene Geld – weg.
Stattdessen treten ideologische Bruchlinien und weltanschauliche Differenzen zutage. Die Schuldenbremse eleviert mit voller Härte. Die Länder und Kommunen dürfen sich nicht mehr verschulden. Sie liegen entblößt und beinahe nackt da, unfähig die hässlichen Stellen an sich zu verdecken – geschunden von jedem neuen Finanzausgleich, unfähig nur die letzten Fetzen Würde für ihre schutzbedürftigen Bürger zu bewahren. Welches Verhältnis wollen wir zwischen Bund und Ländern? Wie positionieren wir uns zur Europäischen Union? Sind Staatsschulden Sünde oder Gestaltungsinstrument?
Sie liegen entblößt und beinahe nackt da, unfähig die hässlichen Stellen an sich zu verdecken – geschunden von jedem neuen Finanzausgleich, unfähig nur die letzten Fetzen Würde für ihre schutzbedürftigen Bürger zu bewahren.
Geld bestimmt Politik
Eine fundamentale Staatsreform wird zur Überlebensfrage gesellschaftlicher Akzeptanz. Politische Systeme der Nachkriegszeit haben ausgedient. Klimawandel, technologische Disruption und Verschiebungen auf dem Kontinent erfordern radikale Anpassungen. Bei CDU und CSU herrscht Paradoxie. Das Festbeißen an der Schuldenbremse kollidiert mit der Suche nach Auswegen in Sondervermögen.
Staat braucht Reform
Die institutionelle Zerfaserung des Landes manifestiert sich als Krisensymptom. Ein Geflecht aus Gremien und Entitäten lähmt die Handlungsfähigkeit. Die Bürger erwarten vom Bund Lösungen. Er kann sie aufgrund föderaler Strukturen oft nicht liefern. Die Kompetenzen fehlen oder reichen nicht. Diese Gemengelage aus Bund, Ländern, EU und zahllosen Gremien verlangt eine Klärung der Beziehungsfragen. Der neue Kanzler muss eine Staatsreform anstoßen. Mit Philipp Amthor als Fachsprecher für Staatsorganisation und Staatsmodernisierung hat die CDU seit 2021 einen potentiellen Architekten dieser Reform in ihren Reihen. Er könnte dies im Innenministerium oder einer eigenen Kommission vorantreiben.
Die föderale Struktur des Landes erweist sich zunehmend als Anachronismus. Sie macht Deutschland robust, gleichzeitig schwerfällig und resistent gegen Zukunftsanpassungen. Die Beziehungsfragen reichen tief. Der Bürger begegnet seinem Staat vornehmlich auf kommunaler Ebene. Die Länder als Zwischenebene müssen ihre Daseinsberechtigung neu definieren. Die weitverbreitete Vorstellung vom Bundeskanzler als allmächtigem Problemlöser täuscht. Er gleicht eher einem Kaiser, der strategische Rahmen setzen kann. In der Umsetzung bleibt er auf die „Länder-Fürsten” angewiesen.
Diese können durch die von Union und FDP durchgesetzte Schuldenbremse nicht mehr gestalten – ihr „Münzprägerecht” wurde kassiert. Das Verbot eigener Schulden lähmt Investitionen und den notwendigen Staatsapparat. Berlin zeigt dies deutlich. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) muss beim Schulessen sparen, Kultur drastisch kürzen, dringend benötigte U-Bahnzüge und Busse nicht anschaffen, Infrastrukturnutzung verteuern und im Sozialbereich mit Notbudgets hantieren. Was einst als berlintypische Dysfunktionalität belächelt wurde, bedeutet längst bitteren Ernst. Die Bürger erleben ihren Staat dort, wo er am schwächsten ist. In der finanziell ausgebluteten Kommune. Im überlasteten Finanzamt. In einer Justiz, die in unverständlicher Sprache kommuniziert.
Transformation braucht Kraft
Etwa der Landwirtschaftssektor zeigt politisches Versagen ziemlich deutlich: Hohe Energiepreise, von denen Landwirte nicht schaffen zu profitieren. Von einem Oligopol aus Einzelhandel und Herstellern zerriebene Erzeugerpreise. Ein vom Verbraucherwettbewerb getriebener Lebensmittelmarkt offenbaren grundsätzliche Fehlfunktionen für die Grundlagen der Versorgung der Bevölkerung. Die überbordende Bürokratie demonstriert ordnungspolitisches Misstrauen grüner Politiker gegenüber konventionellen Wirtschaftsbetrieben und Misstrauen der konservativen Politiker gegenüber den neuen Marktteilnehmern aus der nachhaltigen oder Ersatzprodukte-Branche. Vergünstigungen für alte Technologien beweisen politische Innovationsverweigerung und Denkfäulnis. Kosmetische Reformen greifen zu kurz. Eine Staatsreform muss her!
Zwar eignet sich Friedrich Merz kaum, die drängenden Fragen von Löhnen, Renten und Bürokratie als Einzelsymptome zu lösen. Er könnte dennoch als Kanzler in die Geschichte eingehen, der den Staat neu aufstellte. Ein solcher Umbau wird schmerzhafte Einschnitte bedeuten, besonders für Profiteure des Status quo. Das föderale System der Nachkriegszeit und seine Reform von 2006 sind überholt. Die Welt dreht sich in atemberaubendem Tempo – geprägt von ubiquitärem mobilem Internet, fortschreitender demographischer Überalterung und schwindenden Gewissheiten.
Die entscheidende Frage bleibt. Kann ein fast Siebzigjähriger ohne Coolness und Draht zu den Leuten diese wichtige Transformation gestalten? Skepsis ist berechtigt. Ein Land zu erneuern, erfordert mehr als administrative Kompetenz. Es braucht die Fähigkeit, Ideen und neue Denkstrukturen zu vermitteln.