Berliner Beobachtung

Bass, Beton und Begierde

In Berlin ist immer etwas los. Fast vier Millionen Einwohner erleben täglich kleine und große Dinge. So war es auch am letzten Wochenende. Die Stadt ist gerade etwas von ihren eigentlichen Bewohnern entleert, denn es ist Sommer, doch zuverlässig speien die Flugzeuge tausende Besucher in die Stadt – es passiert immer etwas.

Berlin ist bekannt für seine lockere Sexualmoral, so trafen sich, bekannt oder nicht, am Sonnabend zwei Seelen in einem der Clubs entlang der Spree, die gern als Abklingbecken oder Aufwärmbehälter genutzt werden, um aus dem Tanzklub heraus oder in ihn hinein zu zelebrieren. Je nach Stimmung und Status der Visite. Es ist schön, wenn sich Menschen gut finden, Zuneigung zeigen. So geschieht es auch recht regelmäßig, dass sich noch Fremde in dieser Stadt einlassen.

Die Verbindungsstraße durchtrennt den Stadtteil, trennt den feierwütigen Szenebezirk vom beschaulichen Wohnviertel. Immer entlang der Straße verläuft die Hochbahntrasse. Sie gibt der Stadt ihren Takt. Im minütlich zischen S-Bahnen vorüber. Auf der einen Seite der gemauerten Hochbahntrasse die vielbefahrene Straße, auf der anderen Seite lauschige Baustellen und der anregende Geruch unfertiger Bauwerke, menschlicher Begierden und Bedürfnisse aller Art. Hinter dem Bogen legt sich Stille, die durch das Rattern der S-Bahn gestört wird – ein urbaner Herzschlag. Die Baustelle, tagsüber ein Ort geschäftiger Aktivität, ruht nun im Dämmerlicht der großen Freiheit.

Die kleine Stichstraße, die unter dem S-Bahnbogen abgeht, ist mit Unrat gesäumt – stumme Zeugen vergangener Nächte und kurzweiliger Treffen. Die Baustelle ruht am Abend.

Zwei Fremde, die sich aus dem Kollektiv der Tanzenden herausgestohlen haben, um sich nun genauer kennenzulernen, laufen suchenden Schrittes durch den offenen Hochbahnbogen von der Straße in das Areal, während eine S-Bahn Unwissende über ihnen entlang transportiert. Die zwei halten sich an den Händen, Sie ist forscher als Er und zieht in einen kleinen einigermaßen befestigten Weg direkt zwischen der Mauer und Baugrube. Der verborgene Winkel bietet Schutz vor allzu interessierten Blicken, aber nicht vor der Ungeduld.

In Berlin, im Jetzt

Die zwei zögern nicht, sie leben in der Situation. Sie haben keine Vergangenheit außer der letzten Stunden, sie haben keine Zukunft, die weiterreicht als wenige Minuten. Sie werden sich gleich den Takt der Stadt machen. Im Schutze der Hochbahnmauer klammern sich die beiden. Sie gießen an diesem Wochenende das Benzin in den Tank der Freiheit, um sich ihren Begierden hinzugeben und sich ihr dann zu entledigen.

An diesem Ort vermischt sich der Geruch von Scham und Abenteuer zu einer berauschenden Essenz. Es ist der erregende Duft vergangener Erregung und zukünftiger Lust, der die Luft schwer macht und die Sinne benebelt. Die zwei zögern nicht. Sie leben ganz in diesem Moment, geborgen in einer Zeitblase, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. Ihre Geschichte beginnt mit den letzten Stunden und endet in wenigen Minuten. In ihren Augen spiegelt sich die Entschlossenheit, sich dem Rhythmus der Stadt hinzugeben, ihn zu ihrem eigenen zu machen. Ihre Körper, noch bebend von der Vibration der großen Bassboxen, sind bereit, einen neuen Takt aufzunehmen. Ein unterdrückter Schrei von Ihr, ein uriger Ruf von Ihm – entledigte Begierde. Ephemere Ekstase.