Nach der Bundestagswahl strömen sie wieder in die Hauptstadt: Neulinge im Politikbetrieb. 230 frischgebackene Abgeordnete und ihre Mitarbeiter bevölkern das Regierungsviertel. Mit Idealismus im Gepäck und ohne Kenntnis der ungeschriebenen Regeln stürzen sie sich in den parlamentarischen Alltag – während die alten Hasen wissen, wie das Spiel gespielt wird.
Alle erfahrenen Abgeordneten ähneln einander in der Beherrschung jenes subtilen Machtspiels, das sich Politik nennt – jeder unerfahrene Neuling tappt auf seine eigene Weise im Dunkeln der ungeschriebenen Gesetze. Das Regierungsviertel in Berlin-Mitte hat sich gehäutet. Nach der Bundestagswahl vom vergangenen Februar sind sie wieder eingezogen, die Neuen, die Unverbrauchten, die Ungeschliffenen.
Neustart im Regierungsviertel
Neue bevölkern nun den Reichstag, die Nebengebäude und die Straßen im Regierungsviertel. Mit ihnen kommen Mitarbeiter, Referenten, wissenschaftliche Hilfskräfte – ein Schwarm von Neuankömmlingen, die das System noch nicht kennen und die das System noch nicht kennt. Sie arbeiten nicht nur in Bundestagsbüros, sondern auch in Verbänden, Stiftungen und Denkfabriken.
Man erkennt sie sofort. Zwischen Brandenburger Tor und Unter den Linden, in der schmucklosen U5, stieg sie ein: Ende zwanzig, in einer dunkelgrünen Funktionsjacke mit rot-weißem Emblem am Ärmel. Ihre Devianz ist schwer zu übersehen – sie steht ratlos vor der U5-Netzspinne, ihre Schuhe glänzen noch vom Fabrikwachs, die Brillengestelle sind für Berlin-Mitte einen Ticken zu lame. Der Gürtel an ihrer schlichten schwarzen Hose folgt dem Dresscode konservativer Kreise: Eine gebogene Linie mit einem Querbalken, zusammen ein stilisiertes A – jenes Symbol, das Zugehörigkeit signalisiert.
Die zu breiten und flachen Brillenränder umrahmen einen Blick, der die Verlorenheit eines Menschen ausstrahlt, der in seiner Heimatstadt jeden kennt und jetzt in der Anonymität einer Viermillionenstadt versinkt. Als die Türen aufgleiten, zögert sie einen Moment zu lang. Die Berliner strömen an ihr vorbei, während sie noch überlegt, ob sie aussteigen soll.
Hauen und Stechen
Nach der konstituierenden Sitzung Ende März beginnt das große Hauen-und-Stechen. Während auf den Gängen noch Umzugskisten stehen, werden bereits Reviere abgesteckt. Es gibt 23 Ausschüsse, aber nicht jeder kann überall sein.
Im Bundestagsrestaurant raunen sich die Altgedienten zu, der Verteidigungsausschuss sei bereits überfüllt. Dort fließe jetzt das große Geld wegen des Sondervermögens. Der Ausschuss mit seinem Einzelplan 14 ist neuerdings begehrt – selbst kleine Krümel für den eigenen Wahlkreis sind hier Streußelkuchenkrümel mit Millionenwert.
Die Konkurrenz um Büroräume

Die Büroverteilung ist ein Schauspiel für sich. Die Silberrücken der Fraktionen residieren in geräumigen Eckbüros mit Spreeblick. Für die Neulinge bleiben oft kleine Kabuffs, in denen sie ihre Träume von politischer Gestaltungsmacht auf Quadratmetern zusammenfalten müssen, die kaum für Schreibtisch und Besucherstühle reichen. Ein CDU-Abgeordneter im dritten Mandat feiert seine Beförderung zum Obmann mit einem Büro-Upgrade – nachdem er anfangs in einem schrankähnlichen Raum neben dem Fahrstuhl untergebracht war.
Jagd nach Personal
Die Einstellung des Personals ist der nächste Kraftakt. Jeder Abgeordnete verfügt über ein fünfstelliges Monatsbudget für Mitarbeiter. Doch qualifiziertes Personal zu finden, ist nicht einfach. Die Alteingesessenen haben bewährte Netzwerke, aus denen sie schöpfen. Die Neuen müssen sich durchkämpfen oder eigene Leute mitbringen, die ebenso unerfahren sind wie sie selbst.
In der Kantine des Jakob-Kaiser-Hauses verrät der norddeutsche Akzent einer jungen Mitarbeiterin, dass sie frisch aus Kiel oder Hamburg nach Berlin gekommen ist. Sie trägt einen schlichten Hosenanzug und praktische, noch nicht repräsentative Schuhe mit Gummisohlen – sie quietschen auf den gewachsten Betonböden. In einem Jahr wird sie in Markenkleidung durch die Gänge laufen und alle wichtigen Referenten kennen. Am Nebentisch erklärt eine erfahrene Büroleiterin, dass man sich Kontakte erst erarbeiten müsse – ohne die richtigen Kniffe landen auch brillante Anträge im Archiv.
Mentoren und Initiativen
Das wirkliche Leben des Bundestages spielt sich nicht in den übertragenen Plenarsitzungen ab. Die eigentliche Macht liegt in Ausschüssen, Arbeitsgruppen und vertraulichen Flurgesprächen. Wer neu ist, braucht einen Mentor, um sich protegieren zu lassen. Die jungen Abgeordneten und Einsteiger rotten sich in „jungen Gruppen“ und Parlamentskreisen zusammen, entwickeln Strategien für das komplexe Geflecht des Bundestages.
In den Büros entstehen die ersten Entwürfe für parlamentarische Initiativen. Die Neuen wollen sich profilieren, doch die alten Hasen wissen: In der Politik zählt nicht nur die gute Idee, sondern vor allem Timing und Unterstützung. Die Fraktionsführung entscheidet, was durchgeht – die „jungen Hüpfer“ müssen erst beweisen, dass sie verlässlich sind.
Chaos und Routine
In den Büros der Neuen herrscht noch Chaos. Umzugskisten neben hastig aufgebauten Schreibtischen, kahle Wände, halb eingerichtete Computer. In einem dieser Büros brütet eine junge Frau aus Sachsen über der Geschäftsordnung des Bundestages, jenem komplexen Regelwerk, das den parlamentarischen Betrieb steuert.
Während die Etablierten ihre gewohnten Pfade gehen, stehen die Neulinge noch staunend am Rand. Die Vertrauten des Systems gleichen einander in ihrer routinierten Beherrschung der Abläufe – die frisch Hinzugekommenen kämpfen jeder auf eigene Weise mit der Komplexität des Betriebs.
Schleifprozess
In einem Jahr werden auch sie Teil des Systems sein. Werden wissen, welche Türen sich öffnen und welche verschlossen bleiben. Werden die richtigen Schuhe tragen, die richtigen Worte finden, die richtigen Hände schütteln. Bis dahin bleiben sie erkennbar – an ihrer Unsicherheit, ihrem Idealismus, ihren noch nicht perfekt sitzenden Anzügen.
Berlin schleift seine Neulinge, bis sie passen. Oder bis sie gehen. Denn die etablierten Parlamentarier wissen, wie man in diesem System überlebt – die Neulinge müssen erst herausfinden, wie man in diesem Spiel nicht untergeht.