Die Generaldebatte läuft im Bundestag, die Regierung ist gescheitert. Olaf Scholz – er blättert, liest und verwaltet. Eine buttergelbe Mappe mit rotem Streifen, fett gedruckt: EILT. Genau platziert, ein Zeichen von dringlicher Bedeutsamkeit, von sorgsamer Kontrolle. Während andere reden, handelt er, der Kanzler – so die Botschaft. Ist das aber echte Führungsstärke oder einfach Inszenierung? Der Bundeskanzler im Aktenstaub, ein Bild der Beständigkeit?
Es ist ein frostiger Dienstagmorgen im Februar. Draußen hat die Nacht gefrorene Pfützen hinterlassen, kontinentale Kaltluft hält Berlin im Griff. Keine Sonne durchbricht den grauen Himmel über der Hauptstadt. Im Plenarsaal des Bundestages spiegelt sich diese Kälte in der Farbgebung wider: Grau in Grau, unterbrochen nur vom Anthrazit des Rednerpults und der Regierungsbank – die charakteristische Architektur des parlamentarischen Raums.
Um 9 Uhr beginnt die Generaldebatte am letzten Sitzungstag dieser vorzeitig endenden Legislaturperiode. Bundeskanzler Olaf Scholz tritt ans Rednerpult, hält seine Rede, sachlich, konzentriert, mit der ihm eigenen Routine. Nach seiner kämpferisch gehaltenen Rede kehrt er zurück zur Regierungsbank. Dort wird ihm einige Momente später, als wäre es von einem Requisten geschickt arrangiert, die Mappe mit dem roten Diagonalstreifen gereicht. Der rote Diagonalstreifen ist das formale Kennzeichen vertraulicher – als geheim eingestufter – Regierungsdokumente.
Es eilt heute
Heute trägt die Mappe eine zusätzliche Markierung, denn mit einer Büroklammer ist ein weißer Zettel daran befestigt, darauf in rotem Rahmen in Versalien das Wort „EILT“. Offenbar ist das eine Ergänzung des gewohnten Erscheinungsbildes des Bundeskanzlers Olaf Scholz. Seit Beginn seiner Amtszeit lässt Scholz das Bild des verwaltenden Machers von sich zeichnen. Es ist eine Rolle, die er bereits als Finanzminister in der Regierung von Angela Merkel einnahm und die er in seiner Kanzlerschaft fortführte. Er trat 2021 mit der Botschaft an, dass er eien Fortführung der Regierungsarbeit der Angela Merkel sei. Die personelle Kontinuität dieser „Linie Merkel“ zeigt sich auch in der Berufung seines ehemaligen Staatssekretärs Jörg Kukies (SPD) zum Finanzminister nach dem Scheitern der Ampel-Koalition. Kukies hatte unter Scholz al sFinanzminister bereits gedient und war bei den Wirecard-Untersuchungen ein bekannter Name.
Am letzten Sitzungstag des Parlaments, das ihn gewählt hat, verfestigt sich diese Inszenierung in der „EILT“-markierten Mappe. Vor den Augen der ganzen Republik demonstriert der Kanzler seine Version von Staatsführung: Auch im Moment der parlamentarischen Abrechnung durch den Gegner, inmitten der politischen Krise, dominiert die administrative Pflicht. Die Pflicht, die er, Olaf Scholz, als Macher und Administrator der Bundesrepublik erfüllt.
Olaf Scholz‘ Amt BK
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Die Szene wird nun zu einer dokumentarischen Szene der Selbstinszenierung. In der eintönig grau-blauen Umgebung des Plenarsaals werden die buttergelbe Aktenmappe und der rote „EILT“-Zettel zu Sehhilfen für den Betrachter. Sie zeigen eine allegorisch die Handlungsmacht der Regierungspraxis. Verwaltungshandeln – oft bedeutet Politik genau das – wird durch diese einfache aber kraftvolle Geste deutlich gemacht: Olaf Scholz ist ein Macher im Aktenstaub und mit Lesebrille.
Es handelt sich um eine Form der politischen Kommunikation, die sich bewusst der großen Dramatik verweigert. Stattdessen setzt sie auf die Symbolik der kontinuierlichen Verwaltungsarbeit. Der Kanzler, der selbst am Tag der finalen politischen Abrechnung Dokumente studiert, die als dringlich markiert und größer als das Klein-Klein der Niederungen sind. Die Botschaft ist eine der administrativen Beständigkeit, ein „Sie kennen mich“ inmitten von Diskontinuität.
Die markierte Mappe wird damit zum Dokument einer spezifischen Regierungsauffassung. Sie zeigt einen Politikstil, der sich in der Tradition des verwaltenden Regierens sieht und diese Tradition auch im Moment der Krise aufrechterhält. Die „EILT“-Markierung erscheint dabei als Intensivierung dieser Selbstdarstellung – als wolle sie die Dringlichkeit der Staatsgeschäfte noch einmal besonders unterstreichen.
Wenn Scholz später den Plenarsaal verlässt, nimmt er die Mappe mit. Vor dem anthrazitfarbenen Hintergrund bleiben der rote Streifen und das „EILT“-Schild als letzte Farbakzente sichtbar – Zeichen einer Regierungspraxis, die bis zum Ende ihre sorgsam ausgewählte Form der Selbstdarstellung behält.